Stories : Der Notar
 
  Der Notar  
 
 
  Am späten Abend des 11. September 1857 gab es einen Alarm für die Feuerwehr der Stadt, da ein Haus im ... Weg lichterloh brannte. Im offiziellen Bericht der Polizei las sich dieser Vorfall wie folgt:

"Gegen 21.20 Uhr des 11. Septembers 1857 bemerkten Hr. S. und seine Gattin einen durchdringenden Brandgeruch und kurz darauf auch einen Flammenschein im Hause ihres Nachbarn Hr. F. Sie riefen unverzüglich die Feuerwehr (die Feuerwache liegt ca. 2 Minuten zu Fuß entfernt), die auch ca. 7 Minuten später am Ort des Geschehens eintraf. Das Feuer konnte schnell unter Kontrolle gebracht werden, eine Gefahr für die Nachbarhäuser bestand zu keinem Zeitpunkt. Spezialisten der Feuerwehr und der örtlichen Polizeiwache kamen zu keinerlei Erkenntnis bezüglich der Brandursache. Es wurden keinerlei Spuren gefunden, die darauf hätten hindeuten können. Auch der Verbleib des Hausbesitzers Hr. F. ist ungeklärt. Er wurde nicht unter den Trümmern seines Hauses gefunden. Andererseits liegen Aussagen aller Nachbarn vor, die beschwören können, dass Hr. F. sein Haus gegen 18.00 Uhr betreten und es danach auch nicht mehr verlassen hatte."

Der oben geschilderte Vorfall erscheint auf den ersten Blick wohl bedeutungslos und auch kaum geeignet Leser besonders zu fesseln. Interessant war er aber für mich sehr wohl.

Oh, entschuldigen Sie bitte. Ich bin unhöflich. Da fange ich gleich mit der Geschichte an und stelle mich nicht einmal vor... Mein Name ist Ferdinand Farsel, Doktor Ferdinand Farsel, um genau zu sein, und ich bin Advokat, der Advokat des Hr. F., um auch dieses zu präzisieren.
Aber zurück zu der Geschichte oder besser... Lassen Sie mich am Anfang beginnen:

Der Anfang liegt schon einige Monate zurück, als ich Besuch durch Hr. F erhielt. Wir kannten uns aus unserer gemeinsamen Schulzeit, hatten uns aber vor Jahren schon aus den Augen verloren. Um so erstaunter war ich, als Hr. F. im Juli 1857 meine Kanzlei betrat. Nachdem wir die in einem solchen Fall üblichen Höflichkeiten ausgetauscht und etwas über die gute, alte Zeit geschwärmt hatten, kam Hr. F. zum Grund seines Besuches. Er brauchte die Hilfe eines Advokates und da fiel ich ihm, als ein Bekannter aus seinen fröhlichen Jugendtagen, ein. Er wollte einige Dokumente und ein Bild hinterlegen, zusammen mit einem Brief, der Anweisungen enthielt, die unbedingt auszuführen wären, falls ihm etwas zustoßen würde. Außerdem hätte er mich auch gerne als Vertreter seiner Interessen und als Nachlaßverwalter bestellt. Ich fragte ihn, ob es denn Anlass gäbe anzunehmen, dass ihm "...etwas zustoßen würde...", aber er lachte nur nervös und verneinte dieses. Er erklärte mir, dass diese Dinge ihm sehr am Herzen liegen würden und er einfach nur sicher sein möchte, dass sie auch in sicheren und vertrauenswürdigen Händen wären. Ich versprach ihm, mich genau an seine Anweisungen zu halten und unterdessen die Dokumente und das Bild in meinem Tresor zu hinterlegen. Für die Bestellung als Vertreter und Nachlaßverwalter würde ich noch seine Unterschrift unter eine Vollmacht benötigen, die Hr. F. mir auch bereitwillig leistete. Er wirkte danach sehr erleichtert, fragte mich nach den entsprechenden Gebühren für ein Jahr und bezahlte diese in bar. Danach sperrte ich meine Kanzlei ab und wir setzten uns in meinen Rauchsalon (meine Wohnung und meine Kanzlei sind in einem Haus untergebracht), tranken noch einen guten, alten Cognac, rauchten eine Zigarre und ließen die Schulzeit mit ihren Streichen und Erlebnissen wieder aufleben. Es sollte das letzte Mal sein, dass wir uns sahen oder sprachen.

Ungefähr zwei Monate später - am 12. September, dem dem Brand folgenden Tag, erfuhr ich aus der Zeitung von den obig geschilderten Vorkommnissen. Als der Vertreter des Hr. F. machte ich mich auf den Weg zu der schon erwähnten Polizeiwache und verlangte nähere Auskünfte. Nach der Vorlage der entsprechenden Vollmacht bekam ich auch bereitwillig Einblick in die bis dato erlangten Erkenntnisse bezüglich dieses Falles. Viel war es nicht und selbst von dem Wenigen war einiges doch sehr ungewöhnlich, um nicht zu sagen: mysteriös.
Der Aussage der Nachbarn zufolge, ging dem Brand ein lauter Streit oder Kampf im Hause des Hr. F. voraus. Keiner der Nachbarn hatte aber jemanden gesehen, der Hr. F. besuchte oder ihn verließ. Wie mir der Vorsteher der Wache anvertraute, war die Nachbarschaft des Hr. F. als neugierig zu bezeichnen und insbesondere durch den Streit aufmerksam gemacht, hätte sich von diesen Personen keine einzige abhalten lassen können, das Haus des Hr. F. zu beobachten.
Der Brand war nicht schwierig zu bekämpfen, aber von der Art des Verlaufes wohl ungewöhnlich. Es schien, als wäre das Haus konzentrisch von außen nach innen abgebrannt und als hätte sich der Brand besonders auf Papier konzentriert. Möbel, Teppiche, Türen und Fenster wiesen zwar Brandspuren auf, waren aber weitgehend unversehrt. Dagegen waren Tapeten, Bücher und Bilder nahezu vollständig verbrannt und zumeist nur als Asche noch vorhanden. Weder waren Spuren von Brandbeschleunigern noch vom Ausgangsort des Brandes zu finden. Der Verlauf von außen nach innen war anhand des Zustandes der Erhaltung rekonstruiert worden, da im Hausinneren der Brand des Papiers von der Feuerwehr gelöscht und so einige Bilder sowie Tapeten insoweit gerettet werden konnten, dass sie als solche noch erkennbar waren.

Nun gut, ich beschloss mir ein eigenes Bild von dem Vorfall zu erstellen und fing an eigene Recherchen vorzunehmen. Als erstes besuchte ich die Feuerwache, schon um mit den Leuten zu reden, die den Brand mit eigenen Augen gesehen hatten. Zu meinem Leidwesen konnten die braven Feuerwehrleute mir keine neuen Informationen liefern. Sie schmückten den sachlichen Bericht der Polizei zwar etwas aus, aber ergänzende Tatsachen erfuhr ich nicht. Eine Aussage stellt eine wirklich nette Fantasterei dar und sollte schon deswegen nicht unerwähnt bleiben:
Als die Feuerwehr anrückte und die Haustür aufbrach, um im Hausinnern zu löschen, hörten die Feuerwehrleute, die als erste das Haus betraten, ein lautes Fauchen. Sich umschauend entdeckten sie eine große schwarze Katze, die sich fauchend und Zähne zeigend in das Freie verzog und nicht wieder gesehen wurde.
Nun weiß ich aber von meinem Bekannten selbst, das er Katzen nicht mochte und (wenn überhaupt) sich nur einen Hund zugelegt hätte. Auch war in dem Haus keinerlei Hinweis auf ein solches Haustier zu finden (das fand ich später heraus, ich greife vor).
Als nächstes ging ich zu dem Haus von Hr. F. und nahm es in Augenschein. Das Haus lag am Stadtrand und war Teil einer ganzen Anzahl von Häusern, die alle den Eindruck von Wohlhabenheit, Biederkeit und auch (man möge es mir verzeihen) etwas Spießigkeit erweckten. Der Anblick des Hauses entsprach dem, den man sich nach den Schilderungen des Polizeiberichtes vorstellen konnte. Das Haus war an sich unversehrt, Türen und Fenster angeschmaucht, aber nicht verbrannt und durchaus noch brauchbar. Da die Haustür offen stand, konnte ich mir einen Einblick in das Innere verschaffen. Auch dort war im Wesentlichen alles, wie der Bericht es vermuten ließ. Ein genaueres in Augenscheinnehmens der Bibliothek sollte sich aber doch als nützlich erweisen. Dieser Raum war leicht zu erkennen; die leeren, angeschmorten Regale und der mit Ruß bedeckte Schreibtisch sprachen doch eine deutliche Sprache. Die Anzahl an Regalreihen waren immens, vom Boden bis unter die Decke ragend, bestimmt 25 laufende Meter. Hier mussten einmal Tausende von Büchern gestanden haben. Ich ging die Regale entlang, aber alle Bände, die dort einmal vorhanden gewesen sein müssen, waren vollständig verbrannt. So wendete ich mich dem Schreibtisch zu und warf einen Blick in die Fächer. Auch hier das gleiche Bild, alles Papierne war zu Asche geworden.
Alles? Bei genauem Hinsehen fiel mir ein kleiner Papierfetzen auf, der scheinbar einmal ein Teil eines Briefumschlages gewesen war. Auf diesem kleinen Fetzen Papier stand eine Adresse, schwer leserlich zwar und durch die Einwirkung des Löschwassers verwischt, aber mit einiger Mühe würde ich sie schon restaurieren können. Während des Rundganges durch das Haus bemerkte ich keinerlei Hinweis auf irgendein Haustier und schon gar nicht auf eine Katze. Kein Futter, kein Ruheplatz, kein Platz für das Versäubern, nichts wies auf ein Tier als Mitbewohner hin.
Nun ging ich im Anschluss zu den Nachbarn, stellte mich als engen Vertrauten des Hr. F. vor und befragte sie zu dem gestrigen Vorfall. Die Einzelheiten der langatmigen und auch langweiligen Gespräche Ihnen ersparend, komme ich gleich zu den Ergebnissen: Mein ehemaliger Bekannter aus Schulzeiten war durch eine Erbschaft zu einem gewissen Reichtum gekommen, ging aber trotzdem einer geregelten Arbeit bei einer stadtbekannten Firma nach. Welchen Beruf er ausübte, konnte man mir nicht sagen, es hieß, er wäre "Wissenschaftler". Er wurde als freundlicher, aber zurückhaltender Mensch beschrieben, auch die Beschreibung "höflich" fiel mehrfach. Er war ledig und wohnte alleine, Besuch erhielt er nur selten. Bei den raren Anlässen, bei denen seine Nachbarn Zutritt zu seinem Haus erhielten, machte sein Anwesen einen aufgeräumten, ordentlichen und auch wohlhabenden Eindruck. Er schien ein Liebhaber, vielleicht sogar Sammler, der schönen Künste zu sein, hingen doch überall in seinem Haus Gemälde (ergänzend kann ich hinzufügen, dass noch viele der Rahmen an den Wänden hingen, bar jeden Bildes). Die Nachbarschaft war allgemein beeindruckt von der Belesenheit meines Bekannten und dieser Eindruck wurde durch die Unzahl an Büchern, die er besaß, noch vertieft.

Es war wohl an der Zeit, sich einmal die Anweisungen meines Bekannten, die er mir aufgetragen hatte, genau anzusehen. Mehr würde ich hier, am Ort des Geschehens, nicht erfahren können. Ich kehrte also zu meiner Kanzlei zurück, öffnete den Tresor und entnahm das Bündel an Dokumenten, dass ich von Hr. F. anvertraut bekommen hatte. Die Anweisungen waren kurz, einfach und in drei einzelne Anweisungen gegliedert:
  • Ich sollte das Bild, dass er mir übergeben hatte, sicher aufbewahren und unter Verschluss halten.
  • Weiterhin sollte ich "die Geschichte" versuchen zu ermitteln
  • Als letztes sollte "die Legende" veröffentlicht werden
Worauf bezog sich das Wort "Legende" und welche Geschichte war damit nur gemeint? Wusste mein Bekannter denn im Voraus, dass ein ungewöhnlicher Vorfall sein Verschwinden oder sogar Ableben begleiten würde? Bis dato konnte auch beim besten Willen von einer Geschichte noch keine Rede sein. Sicher, der Brand war schon voller Ungereimtheiten, das spurlose Verschwinden meines Bekannten sehr ungewöhnlich, der vorherige Streit, von dem die Nachbarn berichteten, wies auf die Anwendung von Gewalt hin, aber trotz dieser Begleitumstände war eine schlüssige Geschichte, ein roter Faden, nicht ersichtlich.
Die Lösung bezüglich des Rätsels um die Legende war dann doch recht simpel. Unter den Dokumenten befand sich ein Pergament mit einer handschriftlichen Darlegung, in einer altertümlichen Sprache verfasst, mit dem Titel "Andrachar - des Bundes Gründung". Nur dieses Pergament konnte mit der Anweisung gemeint gewesen sein. Die eigentliche Legende war wohl ursprünglich Teil eines Briefes, ist sie doch mit einem Anschreiben und einer Unterschrift versehen. Ich gebe sie im Folgenden unredigiert wieder, auch wenn einige Worte mir unverständlich oder gar sinnlos erscheinen. Es ist ein hübsches Märchen und liest sich gut (wenn auch die Ausdrucksweise das Lesen erschwert):

Oh Hüterin des Steines und der Wahrheit,
oh hochverehrte Draks,

die Frechheit zu Pergament zu bringen ein handvoll Zeil'n,
die mir auf meinen Wanderungen zugeflogen sind,
dies Frechheit nahm Treducio, der Wandler, sich.
Ich hoff, die folgend Sätz werd'n finden Euer Wohlwollen...

Andrachar - des Bundes Gründung

Vor vielen langen Jahren,
Als die Erd noch jung und der Himmel noch neu,
Als das Leben noch ohne Arg und die Wasser noch klar,
Da ward dieser Platz wohl jungfräulich und rein.
Nichts Böses noch Übles ward erkennbar und
Alles Leben,
Ob Mensch, Elb, Zwerg oder Tier,
In Frieden und in Liebe lebet.

Doch kann das Gute ohne Böses gar nicht existieren und
So ward das Böse nur verstecket und geduckt.
Es wartete auf seinen Körper,
Es wartete auf seine Stimme,
Es wartete auf seine Zeit...

Als dann die Zeit gekommen ward,
Da erhob das Böse sich und
Fordert seinen zustehend Platz auf Erden und
Den ihm wichtigen Tribut.
Mit lautem Schall rast da der Ruf rund um der Erden Ball.
Ein Sturm des Schreckens und des Terrors brauste mit ihm mit und
Jedwed' Lebewesen empfand nun Furcht und Schmerz in seiner Brust.

Viele wurden von der eignen Furcht schnell überwältigt gar und
Schlossen sich dem Bösen an.
Doch gar noch mehr, die widerstanden und
Blieben treu dem Guten, dem Frieden und der Lieb.

Die Unterteilung allens Leben ging zügig nun voran.
Zwerg, Schlange, Wolf und Drach verschrieben sich dem Bösen.
Elb, Adler, Bär und Einhorn gingen klar zur Liebe und zum Licht.
Die Menschen waren unentschlossen - so wie immer - und
So entschied denn jeder Stamm - und manchesmal gar jeder selbst -,
Auf welche Seite er sich stellt...

Es ward nun nicht nur's Böse auf die Welt gekommen,
Auch Gewalt und List und Krieg,
Auch Verrat und Lug und Trug,
auch Angst und Furcht und alpes Traum,
Des Bösen böse Kinderschar,
Die waren nun gebor'n.

Nach langem Kampfe,
Mit viel Edlen als seines Opfer,
Ward's Böse dann besieget,
Doch aus der Welt konnt niemand es mehr bring'.
Zu tief in aller Herzen es sich eingegraben hat und
Sei auch nochmals dran erinnert...
Das Gute existieret nur, weil Böses auch auf Erden ist...

Nun wurd ein neuer Bund vom Sieger denn gegründet,
Ein Bund, der's Böse bannen sollt auf immerdar.
Regt es sich denn von Zeit zu Zeit und
Schicket es auf diese Welt die Furcht, die Angst und den Verrat,
Wird dieser Bund sein Wirken dahin richten,
Schnell einzudämmen, was denn einzudämmen ist.

Jedweder war - und ist - dem Bunde wohl willkommen,
Solang ein treues Herz in seiner Brust schon schlaget,
Die Liebe muss das höchste Gut ihm seien,
Der Frieden sollt danach ihm kommen, als guter Freund der Lieb,
Die Wahrheit suchen, dem Lichte zu zustreben,
Ist ihm auch das denn wichtig noch,
So ward ein neuer Genosse wohl gefunden.

Nach Gründung dieses Bundes,
Ward der Macht des Bösen gesetzet enge Schranken auf gar lange Jahr.
Doch wär das Böse nicht das Böse,
Hätt es nicht Mittel und auch Weg,
Aufzubrechen jedwede Schranke denn.

So wurd ausgefochten gar eine große Zahl an Kriegen,
An Scharmützeln und an Schlachten wohl äonenlang.
Die Erinnerung an die Zeit der Bundesgründung wurd gar blass,
Zu lange und zu viele Jahre sind vergangen,
Zu viele Opfer musst wohl bringen ein jeder denn.

Bevor der Bund nun niederging und durch der Jahre Staub verdecket ward,
Da ward ein Stein gefunden.
Vom Himmel fiel er als ein leuchtend Licht.
Blau war und ist er,
Blau wie der Tageshimmel,
Blau wie das grenzenlose Meer.
Rot' Adern sind in ihm zu sehen,
Rot wie die Sonn, wenn dicht am Horizont sie stehet,
Rot wie die Flamm', durch trocken Gut gar wohl genähret.
Hart ist er,
Hart und glatt,
Wie ein Gebirges Wand,
Wie eine gut geschliffen' Klinge.

So stehet dieser Stein denn als ein Bild für alle Elemente,
Die Elemente Luft, Wasser, Feuer und Gestein und
Ihre Macht ward diesem Steine übergeben,
Übergeben durch die besten Magier des Bund's.
Wer diesen Stein besitzet,
Der gebietet über alle Elemente,
Ihm wiedersteh'n kann dann wohl niemand mehr von dieser Welt.

Als Hüterin des Steines ward eingesetzt ein Weib,
Untadelig und tapfer,
Zu hüten diesen Stein
Und doch nicht nur.
Auch Wissen sollt gehütet werden,
Zu geben an die Kindeskinder,
Wenn der Zeiten Rad sich drehet.

Ihr an die Seite wurd bestimmt zu setzen eine Schar,
Eine Schar von treuen Helfern und auch Kämpfern.
Zwölfe sollten's sein, ein volles Dutzend wohl.

So wisset,
So bewahret,
So traget weiter:
Solang die Hüterin es gibt,
Solang der Stein in ihrer Hand,
Solang ein Drak noch auf der Erd',
Solang wird's Böse auch bekämpfet,
Wo immer es sich zeigt.,
Wo immer es auch weilt.

Dies ist die Mär, die gehet über Andrachar, der Hüterin und ihrer Draks.
Dies wird gesungen an den Feuern, wenn über diese Welt das Dunkel sinket.
Dies wird erzählet den kleinen Kindern, wenn der Alp sie in den Klauen hat.
Dies wird gegeben von den Alten an die Jungen, wenn die Zeit des Wandels stehet an.

Gesammelt und aufgezeichnet zur Ehr der Hüterin durch
Treducio, dem Wandler

Wie schon erwähnt, ein hübsches Märchen. Eine solche Geschichte hatte ich vorher noch nicht gehört. Das Wort "Drak" erinnerte mich an etwas, doch es wollte mir nicht einfallen.
Wollte ich mich an mein Wort und den Vertrag mit meinem Bekannten gebunden fühlen (und ich wollte, kein Zweifel war möglich), musste ich auch die anderen beiden Anweisungen befolgen. Das Bild unter Verschluss zu halten, war mir einfach. Es befand sich ja schon in meinem Tresor. Blieb noch das Ermitteln "der Geschichte". Das war nicht ganz so einfach, hatte ich doch aus menschlicher Neugier schon Nachforschungen angestellt und war in einer Sackgasse gelandet. Ich beschloss daher, mir noch einmal den Zettel mit der Adresse anzusehen und, falls irgend möglich, darüber näheres zu erfahren versuchen. Nach einiger Mühe und Konsultationen von Bekannten aus dem Umfeld der Kriminalistik (als Advokat kennt man viele Leute), konnte die Adresse rekonstruiert werden. Ich schrieb einen höflichen Brief an diese Adresse, wies mich als Nachlaßverwalter meines Bekannten aus, schilderte das Verschwinden meines Bekannten sowie die Begleitumstände und hoffte auf baldige Antwort (und natürlich auf Neuigkeiten und Informationen).
Nach nur einer Woche erhielt ich tatsächlich ein kleines Päckchen und ein kurzes Begleitschreiben. In diesem Schreiben stellte sich eine Frau B. vor, die meinen Bekannten vor ungefähr einem Jahr über ihre gemeinsame Vorliebe zur Kunst kennen gelernt hatte. Das Päckchen enthielt eine Reihe von Briefen, die mein Bekannter ihr in den letzten Monaten geschickt hatte und die ich im Folgenden wiedergeben möchte. Vorher aber noch eine kurze Bemerkung zu den Daten, zu denen mein Bekannter diese Briefe geschrieben hatte. Der erste, älteste datiert auf den Juni diesen Jahres und liegt damit ziemlich genau einen Monat vor dem Tag, an dem ich Besuch von meinem Bekannten erhielt. Die Briefe wurden dann in unterschiedlichen Intervallen erstellt und gesendet, der neueste war datiert auf den Tag nach dem Brand. Dieser Umstand erschütterte mich recht stark, war doch mein Bekannter dann wohl noch am Leben und versteckte sich nur? Aber lesen sie selbst:

Teure Freundin,
ich kann nicht Stillschweigen, meiner Begeisterung muss ich einfach Ausdruck verleihen. Die Sache ist nämlich, ich habe eine geheimnisumwitterte Entdeckung gemacht. Und derartiges ist nun einmal mein Lebenselixier, wie Ihr wisst. Aber ich berichte besser der Reihe nach...
Wie ihr sicher wisst, besitze ich eine recht große Zahl an Gemälden, einige schon recht lange, einige auch neu erworben. Einige wenige stammen noch aus dem Nachlass meiner seligen Eltern und just eines von diesen hielt ich vor etwa zehn Monaten in meinen Händen. Es war mehr Zufall, als begründbar, dass ich es zur Hand nahm. Das Gemälde hat den Titel "Das schwarze Schloss" und es war von einer eher zweifelhaften Qualität. Schon auf den ersten Blick war dies erkennbar, trotzdem rührte es auf eine eigenartige Weise mein Herz. Und es erschien mir, als wäre etwas mit und an diesem Gemälde "falsch" (ich kann es einfach nicht besser ausdrücken, verzeihen Sie mir). Ich nahm an, dass es mich wohl an meine Kindheit erinnerte.
Da mein Platz in den oberen Stockwerken meines Hauses beschränkt ist (und auch dieses Gemälde nicht besonders gut in der Ausführung ist), beschloss ich, das Bild wieder im Keller einzulagern. Dies war, wie erwähnt, vor ungefähr zehn Monaten.
Beim Durchsehen meiner Archive stieß ich kürzlich nun auf einen Hinweis zu diesem Gemälde und ich rief es mir wieder in mein Gedächtnis. Doch damit nicht genug, stieg ich doch in den Keller und holte das Gemälde hervor. Und wieder erschien es mir beim Betrachten, als wäre etwas "falsch". Doch was nur?
Ich beschloss, das Bild zu reinigen und genauer zu betrachten. Vielleicht würde mir dann ein Licht aufgehen (wie man so sagt). Zuerst trennte ich natürlich das Bild von dem Rahmen. Dann fing ich mit großer Vorsicht an einem Rand an den Schmutz und die Firnis zu beseitigen - nur um zu sehen, wie dick dieser Auftrag war. Doch schon nach kurzer Zeit war mir klar, dass unter dem Gemälde ein anderes, wenn auch recht ähnliches Gemälde, übermalt worden sein muss. Flugs holte ich mir die notwendigen Chemikalien aus meiner Werkstatt (wohl dem, der eine Werkstatt hat) und fing an, das übermalte Bild wieder freizulegen. Die Zeit verging wie im Fluge und nach einer durch gearbeiteten Nacht sank ich vor Erschöpfung und Müdigkeit auf meine Couch im Arbeitszimmer, aber das Gemälde war zu einem Teil von der Übermalung befreit.
Der Erfolg meiner Bemühungen war - fand ich - enorm, das zum Vorschein kommende Bild weist zwar eine große Ähnlichkeit auf, weicht aber in einigen Details doch deutlich ab. So zeigen beide Bilder ein Schloss oder eine Burg, die vor einem Fluss oder in einem See von Bergen umgeben dargestellt wurde. Aber, teure Freundin, gestattet mir meine Arbeit zu vollenden und Euch danach weitere Details anzuvertrauen.
Euer ergebener F.

Hochverehrte und vertraute Freundin,
verzeiht mir, dass ich so lange Zeit nicht von mir hören lies. Doch die letzten Wochen waren recht reich an Arbeit und haben mir keine freie Zeit mehr zugestanden. Ich hatte euch ja vorbereitet, das geheimnisvolle Gemälde hat mich doch sehr beschäftigt. Ja, ich bin nun fertig mit der Restaurierung und doch erst am Anfang...
Wie erzähle ich Euch die zurück liegenden Vorkommnisse nur? Es wird wohl ein längerer Brief.
Nachdem ich den Anfang gemacht und eine Nacht durch gearbeitet hatte, legte ich mich mit dem Sonnenaufgang nieder und schlief tief und fest den ganzen Tag und auch die darauf folgende Nacht. Ich erwachte erst am Morgen des Montages und musste natürlich zu meiner Arbeit eilen. Doch an diesem Tage war ich von wenig Wert, die Arbeit ging mir schlecht von der Hand und meine Unkonzentriertheit fiel sogar Kollegen auf. Meine Gedanken schweiften immer wieder zu dem Gemälde und ich freute mich schon auf die weitere Restaurierung. Ich ging schon die nächsten Schritte durch, stellte mir vor, was ich wohl unter der Übermalung entdecken würde. Kurz und gut, mein Prinzipal rief mich zu sich und fragte nach meinem Befinden. Dies freudig als Ausrede gebrauchend, erfand ich schnell ein "nervöses Nervenleiden", dass mich von Zeit zu Zeit befallen würde und nahm einige Wochen frei. Wir einigten uns auf erst einmal drei Wochen, dann würde man weitersehen können. Rasch nahm ich meine Sachen und rannte fast schon aus der Firma und nach Hause.
Dort angekommen, nahm ich ohne weiteren Verzug das Gemälde und die Chemikalien zur Hand und setzte meine Arbeit fort. Ich möchte Euch nun nicht mit einer ausführlichen Beschreibung der folgenden Tage langweilen, nur soviel:
Jeden Tag arbeitete ich bis zur Erschöpfung an dem Gemälde und legte mehr und mehr von dem Original frei. Zu meinem eigenen Verdruss stellte sich der Zustand der Erschöpfung aber immer schneller ein. Konnte ich am ersten Tag noch acht oder neun Stunden daran arbeiten, waren es am Folgenden nur noch sieben, dann sechs und nach Ablauf von drei Tagen gar nur vier oder fünf. Immer schneller verlangte mein Körper Ruhe und Erholung. Und dann der Schlaf... Von traumlos oder tief konnte keine Rede mehr sein, meine Träume waren von einer Deutlichkeit, die bis dato ich noch nie erfahren hatte. Neben dieser Deutlichkeit verwirrte mich noch mehr der Inhalt dieser Träume, ich fing an, an meinem Verstand zu zweifeln. War meine Notlüge gar die Wahrheit? Hatte ein Nervenleiden mich in seinen Krallen? Ich werde Euch einige einmal schildern und denke, Ihr werdet mir zustimmen.
    Ich stand vor einer Burg in Schottland (ich war in meinem Leben noch nie in Schottland. Woher wusste ich, wo ich war?), einer Burg, der auf dem Gemälde sehr ähnlich. Ich ging um sie herum und fand einen wunderbaren Ausblick auf einen See. In dem See waren einige Steine erkennbar und ich dachte (im Traum) "Ahh, der Ring der Druiden. Wie gut, dass er in den Fluten versunken ist.".
    Ich saß an einem großen, runden Tisch in einem Raum, der in einem Schloss gewesen sein könnte. Mit mir saß ein (bitte lacht jetzt nicht) Krokodil in einem eng anliegenden Kostüm und wir unterhielten uns.
    Ich stand im Hof eines wunderschönen Schlosses und huldigte einer Frau, die ganz in weiß gekleidet war. Die Frau hielt einen Stein in ihren Händen, wie ich noch niemals zuvor einen gesehen hatte. Der Stein war von einem tiefen Blau mit dunkelroten Adern durchzogen und schien lebendig zu sein.
    Ich flog einem Aar gleich durch die Luft und besah mir unsere Welt aus luftiger Höhe.
Lasst dies als Kostprobe genügen - noch andere, schrecklichere Träume suchten mich Heim - und lasst mich zur Beschreibung der Arbeit an dem Gemälde zurückkehren. Wie gesagt, die Arbeit ging mir schwer von der Hand, aber ich kam voran. Und nach Ablauf von fast schon zwei Wochen war die Restaurierung endlich beendet.
Ihr werdet meinen Stolz sicher verstehen, als ich nach dem letzten Arbeitsgang das fertige Gemälde in meinen Händen hielt. So oft hatte ich darauf gestarrt, so lange Zeit jeden Part mir angesehen und doch... Es war mir, als würde ich es zum ersten Male sehen. Um ehrlich zu sein, es traf mich wie ein Schlag mit einem Hammer. Ich sah es zum ersten Mal wirklich, richtig, vollständig und das warf mich fast um (wortwörtlich, ich musste mich setzen). Und (mit einigem Schaudern beim Niederschreiben) mein erster Gedanke war "Heimat"... Was lies mich solches denken? Die dargestellte Gegend war mir gänzlich unbekannt und nur meine Alpträume konnten mir solches vorgaukeln. Der Schreck und der folgende Schock warfen mich auf mein Lager und hielten mich einige Tage dort fest. Ich fieberte und hatte furchtbare Wahnvorstellungen, die glücklicherweise mein Gedächtnis nicht festhielt. Nur eine vage Erinnerung an diese Zeit ist mir geblieben, eine Erinnerung voller Schrecknisse, von Drachen und Wesen aus tiefster Höllengruft, von Kämpfen und Kriegen, von Zauberern und Gauklern...
Genug davon, zum Abschluss lasst mich aber eine neuerliche Entdeckung preisgeben. Durch die eingehende Beschäftigung mit dem Gemälde fiel mir ein weiteres Geheimnis förmlich in den Schoß:
An der Leinwand war kunstvoll ein Pergament befestigt, auf eine Art und Weise, dass es kaum erkennbar war. Nur meiner ständigen Bemühungen um die Restaurierung ist es zu verdanken, dass ich dieses überhaupt entdeckte. Das Pergament ist erstaunlich gut erhalten, aber leider in einer mir unbekannten Sprache verfasst. Ich werde wohl einige Zeit benötigen, um auch den Schleier um dieses Geheimnis wenigstens zu lüften und einen Blick darauf zu erhaschen.
Sobald ich auch damit weiter gekommen bin, lasse ich Euch an den Neuigkeiten teilhaben (versprochen),
Euer Euch verehrender
F.

Geschätzte Freundin,
wieder sind einige Wochen vergangen, ohne dass ich Euch geschrieben hätte. Mein schlechtes Gewissen plagte mich schon sehr und so lege ich (wie ja versprochen und zugesagt) die folgenden Zeilen nieder.
Leider bin ich zur Zeit in einer wirklich garstigen Laune. Meine Arbeit an dem Pergament (Ihr erinnert Euch?) geht kaum voran. Schon die Bestimmung der Sprache hat mich etliche Zeit gekostet, aber nun weiß ich, dass es eine Abart des Gälischen ist, wie es vor vielen Jahren auch im südlichen Schottland von einigen, wenigen Menschen verwendet wurde. Viel weiter bin ich in der Entzifferung noch nicht vorgedrungen. Es ist nicht nur die Sprache, auch der Satzbau muss sehr altertümlich, eventuell sogar in Form eines Gedichtes oder einer Ode, sein.
Ein niedergeschlagener und enttäuschter
F.

Heureka,
es ist begonnen!
Voller Freude (und mit einigem Stolz) kann ich Euch mitteilen, dass ein Anfang gemacht ist (und mehr als das). Die ersten und die letzten Zeilen sind übersetzt, ich kann sie Euch präsentieren. Und Ihr glaubt gar nicht, wie froh mich dieser Umstand stimmt. Ich könnte juchzen vor Glück, vorbei die Zeit des Alpträume. Und darum konnte ich auch nicht mehr warten und musste Euch diesen Brief schreiben.
Der Text auf dem Pergament ist tatsächlich als eine Art Gedicht formuliert, anscheinend ein ritueller Text, der eine Schöpfungsgeschichte beschreibt. Hauptthema bildet der immerwährende Kampf des Guten gegen das Böse. Aber dieses Gedicht ist Teil eines Briefes, den jemand "...zur Ehre der Hüterin" verfasste. Fragt nicht, welche Probleme ich hatte, diesen Teil zu verstehen und zu übersetzen... Zu Fremd ist er für mein auf Fakten und Tatsachen fokussiertes Hirn und Denken. Aber genug der Vorrede, Ihr seid ja sicher gespannt auf den Inhalt...

Oh Hüterin des Steines und der Wahrheit,
oh hochverehrte Draks,

die Frechheit zu Pergament zu bringen ein handvoll Zeil'n,
die mir auf meinen Wanderungen zugeflogen sind,
dies Frechheit nahm Treducio, der Wandler, sich.
Ich hoff, die folgend Sätz werd'n finden Euer Wohlwollen...

Andrachar - des Bundes Gründung

Vor vielen langen Jahren,
Als die Erd noch jung und der Himmel noch neu,
Als das Leben noch ohne Arg und die Wasser noch klar,
Da ward dieser Platz wohl jungfräulich und rein.
Nichts Böses noch Übles ward erkennbar und
Alles Leben,
Ob Mensch, Elb, Zwerg oder Tier,
In Frieden und in Liebe lebet.


Hier fehlt mir noch ein großer Part.


Als Hüterin des Steines ward eingesetzt ein Weib,
Untadelig und tapfer,
Zu hüten diesen Stein
Und doch nicht nur.
Auch Wissen sollt gehütet werden,
Zu geben an die Kindeskinder,
Wenn der Zeiten Rad sich drehet.

Ihr an die Seite wurd bestimmt zu setzen eine Schar,
Eine Schar von treuen Helfern und auch Kämpfern.
Zwölfe sollten's sein, ein volles Dutzend wohl.

So wisset,
So bewahret,
So traget weiter:
Solang die Hüterin es gibt,
Solang der Stein in ihrer Hand,
Solang ein Drak noch auf der Erd',
Solang wird's Böse auch bekämpfet,
Wo immer es sich zeigt.
Wo immer es auch weilt.

Dies ist die Mär, die gehet über Andrachar, der Hüterin und ihrer Draks.
Dies wird gesungen an den Feuern, wenn über diese Welt das Dunkel sinket.
Dies wird erzählet den kleinen Kindern, wenn der Alp sie in den Klauen hat.
Dies wird gegeben von den Alten an die Jungen, wenn die Zeit des Wandels stehet an.

Gesammelt und aufgezeichnet zur Ehr der Hüterin durch
Treducio, dem Wandler

Ihr müsst zugeben, der Text hat etwas Beeindruckendes und Ermutigendes. Wäre es nicht schön zu wissen, dass eine tapfere Schar sich um das Wohl dieser Erde sorgt und sogar mutig dem Bösen entgegen tritt? Das es wirklich einmal eine Zeit des Friedens gab und vielleicht auch wieder geben wird? Könnt Ihr meine Begeisterung ob dieser Tatsache teilen? Ich hoffe es sehr, würde mich eine Verwandte im Geiste doch bestärken und mir auch Mut und Hoffnung geben.
Doch bleiben noch immer Teile des Ganzen im Dunkeln und ich muss auch zugeben, dass die Zeit der Übersetzung sehr an meinen Nerven und meinem Verstande zerrte und noch immer zerrt. Mehr als einmal war ich drauf und dran zu einem Nervenarzt zu gehen.
Mich wieder dem Pergament zuwendend verbleibe ich
Euer F.


Hier muss ich nun das Zitieren der Briefe unterbrechen. Es ist mir wichtig, Sie auf die letzten beiden Briefe gebührend vorzubereiten. Sie weichen in Stil und Inhalt derartig von den vorherigen ab, dass ich nicht umhin komme, an dem Geisteszustand meines Bekannten Zweifel zu empfinden. Die Arbeiten an dem Gemälde und dem Pergament müssen meinem Bekannten wirklich sehr zugesetzt haben. Eine andere Erklärung ist zwar möglich, aber so absonderlich für unsere aufgeklärte Zeit, dass jeder "normale" Mensch sie abweisen muss. Andererseits würde sie außerordentlich gut zu den mysteriösen Vorkommnissen passen, die am Anfang geschildert wurden. Doch lesen Sie bitte selbst und ziehen Sie ihre eigenen Schlüsse...

Heil dir, oh teure Freundin,
gelobet sei die Stunde, da ich das Gemälde denn zur Hand mir nahm. Wie konnt in diesem Zustande der Unwissenheit ich wohl nur leben? Ein Leben kann dies von gar niemand genannt denn werden, ein Vegetieren war's, ja dies Worte wird eher ihm gerecht...
Das Pergament hab übersetzet ich nun in seiner ganzen Schönheit, je weiter ich mich hab in es vertieft, je einfacher ist's gefallen mir. Die Sprache ist mir nun vertraut, als hätt gelernt ich sie vor langer Zeit. Vergessen hat ich sie, ja das ist es gewesen. Welch albern Ding doch unser Hirn nur ist...
Gewähret mir die Freiheit Euch zu überbringen nun die Botschaft von der Gründung unsres Bundes, genannt der "Bund von Andrachar" schon seit wohl ewig Zeit. Ja, Ihr lest gar richtig "unsres Bundes", bin ich doch auch Teil von ihm und voller Stolz darauf.


(Anmerkung: Hier folgt im Brief der gesamte Text "Andrachar - des Bundes Gründung")


Seit ich die Arbeit an dem Bilde und auch dem Pergament begonnen, ward ich verfolgt von bösem Denken, von Lug, von Gaukelei und auch von Trug. Nun weiß ich wohl, warum dies denn passierte. Ich sollt wohl abgehalten werden zu kosten von dem Baume der Erkenntnis, die Weisheit und die Wahrheit sollt sehen ich wohl nimmer mehr. Doch gab das Pergament mir nötge Kraft zu wiederstehen und zu trotzen...
Gar mächtge Kämpfe musst überstehen ich unterwegens, gar mächtge Feinde kreuzten meinen Weg. Zu Anbeginn kamen sie nur in meinen Träumen, wenn's Unbewusste, schon die Wahrheit ahnend, Kontrolle übernahm. Der schlimmste Kampf doch war in meinem Innern, gefochten mit mir selbst und gegen mich. Wem ist zu trauen, wenn dein Feind du selbst gar bist?
Doch lasset uns vergessen dies Scharmützel, dem Sieg entgegen eilend, geschwind wie eines Taubes Flug. Die letzte Wahrheit war noch heiß umstritten, doch ist's vollbracht, sie ist mir nun erschlossen. So wisset denn, auch wenn dies Wissen für Euch mag gefährlich sein, der Bund, er lebet doch noch immer. Zersplittert ward er nur, zersplittert und verschüttet, doch nicht aus der Welt. Und noch eines bin ich erlaubt Euch mitzuteilen, die Wahrheit über einen Drak:
Der Schreiber dieses Pergamentes, dieser Schreiber, der bin ich selbst und niemand sonst. Der Mensch F. ward nur äußre Hülle, mehr Gefängnis und Behältnis, denn Person. Treducio, der Wandler; ist mein Name und nicht nur Name, sondern auch Bestimmung. Seit ewgen Zeiten, als die Ehr ich hat, dem Bunde beizutreten, werd ich nun so genannt. Doch ist's nicht etwa bloß ein Titel, beschreiben tut es meine Kraft. Als Wandler der ich bin, bin in der Lage ich, mich zu versetzen in gar jedwede Gestalt. Erinnert Ihr Euch des einen Traumes, den kurz ich Euch geschildert hab? Erinnert Ihr Euch der Erschöpfung, die ich wohl fühlte, trotz der langen Stunden Schlaf? Kein Wunder war's, noch Zauberei. Als Vogel flog ich, meinen Posten schon besetzend, um diese Welt, um Dämme gegen's Böse zu errichten.
Nun muss ich schließen diese Zeilen, mehr zu sagen ist mir nicht erlaubt. Wer weiß, ob wir uns noch einmal begegnen werden, des Schicksals Rad sich dreht hier auf dieser Welt. Das Böse hat als sein' Feind mich nun erspüret, Gefahr nun drohen wird (und nicht nur mir)...
Geschrieben hat dies Treducio, der Wandler, in Freundschaft und Ergebenheit zu Euch


Hier nun der letzte Brief, der einen Tag nach dem Brand datiert ist. Zu gerne möchte ich dem Inhalt dieser Zeilen glauben, schön und tröstlich wäre es zu wissen, dass es den beschriebenen Bund wirklich gibt. Vielleicht sollte ich mich auf die Suche machen...
Jedenfalls habe ich den Vertrag mit meinem Bekannten erfüllt; das Bild ist unzugänglich und sicher aufbewahrt, die Geschichte ermittelt und die Legende veröffentlicht.

Ein allerletztes Wort an Euch, oh teure Freundin,
berichten kann ich heut von einem ersten Sieg!
Die erste Schlacht erfolgreich ward geschlagen, die nächste folgt; so war's, so wird's auch weiterhin gescheh'n...
Vernichten wollt das Böse gar mein Wissen, gelungen ist dies nicht, der Hüterin sei Dank! Vorfanden sie nicht das kraftlos Menschenkinde F., oh nein. Treducio war's dem sie es wagten zu begegnen, in Unkenntnis, das zugeben ich wohl muss. Und gelang es ihnen denn auch zu vernichten, das was auf schnödem Pergament geschrieben ward, so mussten sie den Schmerz der Niederlage kosten und konnten nicht vollenden, was denn ihr Plan wohl ward gewesen...
Und nun befreit ich bin von allen Lasten der simplen und der ird'schen Lebensart. Entkommen konnt ich selbst den "Rettern", die eingesperrt mich hätten, dess sicher ich mir bin. Davongeschlichen auf gar sanften Pfoten, davongeschlichen, hin zu meiner Burg. Und klopft das Böse bei Euch an die Pforte, erinnert Euch des Bundes und an mich...
Euch, teure Freundin, stehet offen, was vielen mag versperret und verriegelt sein. Wenn Ihr nur suchen werdet an den richt'gen Plätzen, so wird Euch aufgetan die Pforte und das Tor...
Die Zukunft nur erahnend schrieb dies Treducio, der Wandler, in Ungeduld und voll Erwartung gar...



Seit den Geschehnissen, die ich bis hierher geschildert habe, sind nun einige Wochen in das Land gezogen. Die Aufregungen haben sich gelegt und ich gestehe es gerne ein, ich genieße durchaus die Ruhe, die sich wieder eingestellt hat.

Und doch sitze ich jetzt Tag für Tag hier in meiner Kanzlei an meinem Schreibtisch und muß zugeben, daß mir meine Arbeit kein großes Vergnügen mehr bereitet. Ging ich früher frohen Mutes von meinem Wohnbereich hinüber zur Kanzlei, so erfordert es neuerdings eine gewisse Überwindung meinerseits. War ich zuvor von meiner Arbeit gefesselt und fasziniert, so empfinde ich sie nun langweilig, unwichtig und so manches Mal einfach öde. Die vorab erwähnten Geschehnisse haben wohl doch ihre Spuren hinterlaßen und mich, wenn auch nur geringfügig, verändert. Jedenfalls ist die Veränderung schon so augenfällig, daß sogar mein Sekretarius (die treue Seele) mich darauf ansprach. Ich schien ihm niedergeschlagen zu sein und er fragte, ob denn in meiner Familie etwas geschehen wäre, was mir Kummer bereiten würde (er wußte ja nicht, daß meine Eltern schon einige Zeit nicht mehr unter uns weilen und eine eigene Familie habe ich ja nicht). Kurz und gut, es mußte etwas geschehen.

Eigentlich waren meine Pläne noch etwa fünf Jahre die Kanzlei zu führen und diese dann weiterzugeben an einen sich anbietenden Nachfolger. Noch bevor ich diese Pläne überdenken konnte, begab es sich, daß ein junger, aber vielversprechender Advokat mich ansprach, ob ich nicht von einer möglichen Partnerschaft oder sogar Kanzleiübernahme wüßte. Das Leben steckt doch voller Zufälle und vielleicht war das ja ein Wink des Schicksals. Nachdem ich ihm versprach mich umzuhören und einige Tage nachdachte, machte ich ihm das Angebot meine Kanzlei zu übernehmen. Er war überrascht, aber nicht unangenehm und wir wurden uns zügig einig. Während einer Übergangszeit würden wir meine Stammkunden besuchen und ich könnte während dieses Zeitraumes weiterhin die der Kanzlei angeschlossene Wohnung nutzen. Im Anschluß daran würde er dann Kanzlei und Wohnung übernehmen - gegen ein entsprechendes Entgeld natürlich. Zusammen mit meinen Ersparnissen würde mir dies ein gesichertes Auskommen garantieren, soviel war klar. Blieb nur noch die Frage nach einer neuen Unterkunft für mich selbst.

Auch dieses Problem löste sich wie von alleine. War ich nicht der Nachlassverwalter meines verschwundenen Freundes? Oblag es nicht meinen Pflichten sein Anwesen wieder instand zu setzen und zu vermieten? Warum sollte ich nicht eine Renovierung des Hauses vornehmen lassen und - gegen einen angemessenen Mietzins - selbst dort einziehen? Das Haus war zwar nicht völlig nach meinem Geschmack, aber es lag in einer angenehmen Gegend und (ich muß es gestehen) es erinnerte mich auch an die Geschehnisse, die mich so aus der Bahn geworfen hatten. Es bestand ja die Möglichkeit, dort meinen Frieden mit dieser Welt wiederzufinden.

Die nächsten Wochen waren nun mit einer angenehmen Hektik und Aufregung verbunden. Es galt vieles in Angriff zu nehmen, Entscheidungen zu treffen, den Kundenstamm zu besuchen und noch etliches mehr. Diese Aufregung tat mir gut und lenkte mich ab, so daß ich wieder ganz der Alte wurde. Von einer Merkwürdigkeit sei noch kurz berichtet: die Arbeiter, die die Renovierung des Hauses durchführten, machten mich darauf aufmerksam, daß das Haus im Erdgeschoß über ungewöhnlich starke Wände verfügen müsse. Anders ließe sich wohl nicht erklären, warum die Summe der Grundfläche aller Räume so deutlich unterhalb der Grundfläche des Hauses blieb. Das erschien mir zu diesem Zeitpunkt aber nicht wichtig und so vergaß ich diesen Umstand auch erst einmal wieder.

Nachdem das Haus vollständig renoviert und neu möbliert war, zog ich, mit einem gewissen Wehmut, aus meiner alten Wohnung und Kanzlei aus und richtete mich in meinem neuen Domizil ein. Die Übergabe an meinen Nachfolger war problemlos abgelaufen, mein Kundenstamm würde auch meinem Nachfolger treu bleiben. Von den aufzubewahrenden Dokumenten nahm ich nur die meines Freundes mit und verwahrte diese in einem neuen Tresor an meinem neuen Wohnort. Als der Umzug überstanden war - ich mag die dabei sich einstellende Unordnung einfach nicht, nahm ich nun richtig Besitz vom Haus und durchstöberte alle Ecken und Räumen sowie den Garten. Ich mußte schon sagen, das Haus gefiel mir immer besser und der Garten würde mir eine angenehme Ablenkung vom Nichtstun, zu dem ich ja jetzt verdammt war, garantieren. Mein Pensionärsdasein fing an mir zu gefallen.

Um nicht in Untätigkeit und Grübelei zu verfallen, regelte ich meinen Tagesablauf und teilte ihn in Arbeits- und Ruhephasen ein. Nach dem Frühstück plante ich die erste Arbeitsphase bis zum Mittagessen. Danach würde eine kurze Ruhephase folgen, gefolgt von Gartenarbeit oder bei schlechtem Wetter einer zweiten Arbeitsphase im Haus. Den Abend würde ich im allgemeinen mit dem Lesen eines Buches bei einem Schluck guten Rotweines ruhig ausklingen lassen. Als erste Aufgabe für die Arbeitsphasen stellte ich mir eine genaue Untersuchung des Hauses und seiner Räume, seine unmittelbare Umgebung sowie die Neuordnung und Katalogisierung meiner eigenen Bibliothek (eine Aufgabe, die ich schon lange vor mir hergeschoben hatte).

Trotzallem ist der Mensch wohl ein suchendes Wesen, das auch intellektuell beschäftigt sein möchte. So dachte ich oft an eine etwas fordernde Beschäftigung, als die erwählte. Ich muss gestehen, ich kannte eine Aufgabe, die ich bisher nur von mir gewiesen hatte - vielleicht aus Angst vor der resultierenden Erkenntnis, vielleicht aus Furcht, meine Anschauungen würden nicht Bestand haben. Es kam mir auch so vor, als hätte ich diese Aufgabe zwar angefangen, aber nicht beendet und das widersprach meinen eigenen Prinzipien. Also, was blieb mir übrig, ich mußte einfach die Geschehnisse um meinen Freund F. (oder sollte ich Treducio sagen? Ich werde diesen Namen bevorzugen) weiterverfolgen.

Als erste Tat in diese Richtung schrieb ich erneut einen Brief an die Bekannte meines Freundes, Frau B., mit der Frage, ob mein Freund sich vielleicht noch einmal bei ihr gemeldet hätte, ich wäre in großer Sorge um sein Wohlergehen. Schon nach wenigen Tagen erhielt ich Antwort, wenn auch eine sehr unbefriedigende. Der Brief kam zurück mit der Aufschrift "Unbekannt verzogen". Damit war diese Spur im Sande verlaufen und ich mußte wohl nach Alternativen suchen. Ich las mir noch einmal gründlich die Legende "Andrachar - des Bundes Gründung" durch. Als erste Idee kam mir, mich mit Sagen und Märchen zu beschäftigen. Ein solcher Bund war doch bestimmt durch sein Wirken eine Quelle für Sagen und Legenden, die bis heute überliefert worden waren.

Die nächsten Tage und Wochen waren spannend und langweilig zugleich, voller Erwartungen und letztendlich immer wieder voller Enttäuschungen. Die Welt der Sagen, Legenden und Märchen ist so riesig, dass eine gründliche Auswertung mehr als ein Leben füllen würde. Zudem waren die Geschichten entweder kaum noch einer Quelle zuordbar oder aber zu präzise an einen Ort gebunden. Der Inhalt war zwar zumeist kurzweilig, brachte mir aber wenig Erkenntnisse bezüglich meines Vorhabens. Durch die analytische Betrachtung des teilweise sehr alten Lesestoffes erschloß sich mir denn doch einiges an Neuem, so empfand ich einen Paradigmenwechsel als recht interessant, der sich um die Zeit der Handlung des Gilgamesch-Epos abzeichnete. Waren bis dato die Verteilungen von männlichen und weiblichen Leitfiguren vornehmlich gleichmäßig (sogar eine Tendenz zum Matriarchat war in sehr alten Epen erkennbar), so begann in dieser Epoche sich eine Wandlung zu einer Dominanz der Männlichkeit abzuzeichnen. In einer Sage oder Legende, die sehr alten Ursprunges war, konnte also bei einer Fortschreibung in neueren Zeiten durchaus das Geschlecht der Leitfigur nachträglich verändert worden sein. Dies müßte ich wohl bei meiner Betrachtung mit einbeziehen. Nichts desto trotz waren die gewonnenen Erkenntnisse eher mager, der Bund von Andrachar - so es ihn gab - muss sein Wirken gut verborgen haben.
    Laut Wolfram von Eschenbach ist der heilige Gral der Artus-Sage ein heiliger Stein, den zu suchen sich der Ritter Parzival aufmacht.
    Vielleicht eine Umschreibung einer Suche nach dem Stein von Andrachar? Die Artus-Sage hat ja einige interessante Bezüge - eine Schar von Kämpfern, die sich um eine Leitfigur sammelten und sich dem Guten verschrieben hatten. Auch gibt es ja Variationen und Ergänzungen zu dieser Sage, die eine "Herrin vom See" in den Mittelpunkt stellen. Die Lokalität der Handlung scheint ebenso nicht allzu weit von den Orten, die Treducio beschrieb, entfernt gewesen zu sein (England in der Artus-Sage und Schottland in Treducio's Briefen).

    In einer Vielzahl von Legenden und Überlieferungen wird ein "Stein der Weisen" beschrieben, der (vereinfacht ausgedrückt) seinem Besitzer Macht über die Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde gewährt.
    Dies war nun wirklich eine schon sehr konkrete Beschreibung des Steines von Andrachar. Da die ersten Überlieferungen, in denen der "Stein der Weisen" auftaucht, ein hohes Alter hatten, mußte die Gründung des Bundes schon zu einem Zeitpunkt weit vor unserer jetzigen Epoche vollzogen worden sein, wohl sogar lange vor Christi Geburt.

    Wotan oder Odin ist der Lenker von hauptsächlich zwölf Asen und wird durch Raben über die Vorgänge auf der Erde informiert.
    Hatte Treducio nicht von einem Vogelflug berichtet ("...Als Vogel flog ich, meinen Posten schon besetzend, um diese Welt...")? Waren die Asen gar die Draks und Wotan eine Entsprechung der Hüterin? Andererseits hat dort Loki, ein Gestaltwandler wie Treducio, die Position des Bösen, des Listigen inne.

Der nächste Schritt lag nahe und war einfach eine Weiterführung der bisherigen Recherche. Ich ging über zu Texten über Geheimbünde. Meine erste Vermutung war, daß es schwierig sein dürfte über Geheimbünde Wissen zu erlangen. Aber eine erste Studie des Zugangs zu derartigen Schriften zeigte mir, daß wohl wenig einfacher wäre, als Geheimnisse zu erforschen. Die meisten dieser Geheimbünde waren aus Mönchs- oder Ritterorden entstanden und hatten ihre Wurzeln im Christen- und Judentum oder dem Islam. Da ich bei dem Bund von Andrachar keinerlei religiösen Zusammenhänge vermutete, schloß ich diese von einer näheren Betrachtung erst einmal aus. Es gab aber auch Grenzfälle, wo der religiöse Zusammenhang zwar vorhanden, aber durch eine stark mystizistische Ausprägung überlagert war. Nun, nach dieser Sortierung blieb nur wenig übrig, eigentlich nur Geheimbünde, die ihre eigene Religion festlegten. Auch diese Suche schien sich in eine Sackgasse zu bewegen, mit nur einer einzigen Ausnahme - ein Ritterorden, der sich "Tempelritter" nannte, aber nicht mit anderen Orden gleichen Namens verwechselt werden darf. Dieser Orden berief sich ausdrücklich auf eine Aufgabe "...zu schützen Wissen, dasz nicht gelangen darf in unbefugte Händ...", die von seinem Gründer (einem "Comte de Champagne") um das Jahr 1100 formuliert wurde. Allerdings schien mir die Jahresangabe recht zweifelhaft und verwies wohl mehr auf eine neuere Namensgebung dieses Bundes um die Zeit der Kreuzzüge durch eben jenen Comte de Champagne. Die erneuerte Namensgebung könnte gut mit dem Aufkommen des Christentums erklärt werden und die Gründung dieses Bundes auch wesentlich früher stattgefunden haben.

Ich fand auch häufig Referenzen zu einer oder mehrerer Gruppen, die seit Unzeiten einen schier endlosen Kampf gegen Kreaturen ausfochten, die unserer Welt feindlich gegenüber standen. Diese Hinweise erschienen mir natürlich sehr interessant, war das doch nahezu das, was ich suchte. Doch waren die Referenzen sehr vage und nebulös und es wurde eigentlich niemals von einem Bund gesprochen, sondern nur von unabhängigen Gruppen oder sogar Einzelpersonen. Eine noch größere Zahl an Überlieferungen wies sogar auf das geheime und versteckte Wirken von Bündnissen hin, die einen Kampf zugunsten dieser Kreaturen ausfocht! Ich beschloß meine Recherche an diesem Punkte zu unterbrechen und mich erst einmal mehr weltlichen Problemen zuzuwenden.

Das Haus, in dem ich jetzt wohnte, war zwar von Grund auf renoviert, aber dennoch trat eine Undichtigkeit im Dach auf. Ich sollte mich wohl wieder einmal mit Handwerkern abplagen. Beim teilweisen Abdecken des Daches wurde aber etwas durchaus Interessantes entdeckt: eine Wand, die Bibliothek und Esszimmer trennte, umschloß einen Hohlraum, der keinen erkennbaren Zugang besaß. Das war wohl auch der Grund für den schon angemerkten Verlust an Grundfläche. Da ich mir beim besten Willen nicht vorstellen konnte, daß der Architekt des Hauses einen derartigen Unfug geplant hatte - schon weil der Hohlraum recht perfekt versteckt war und die umgebenen Wände durch ihren Verlauf keinerlei Hinweis lieferten - fing ich an nach einem Zugang zu suchen. Es kamen dafür ja nur die Wände des Esszimmers oder der Bibliothek in Frage. Kurz und gut, nach einigem Abklopfen und genauem Hinsehen entdeckte ich eine hervorragend versteckte Tür in der Wand der Bibliothek, nur wie diese geöffnet werden konnte, war mir zunächst verborgen geblieben. Tatsächlich konnte die Geheimtür durch einen sinnreichen Mechanismus am Kamin der Bibliothek geöffnet werden. Dieses Geheimnis zu ergründen kostete mich doch etliches an Mühe und Zeit. Um so gespannter war ich, was hinter dieser Tür wohl verborgen war.

Es ist in diesem Leben wohl immer so, daß auf eine große Erwartung auch eine große Enttäuschung folgen würde. Die Tür verbarg nur ein Regal, auf welchem einige Bücher neueren Datums und einige sehr alte Folianten ihrem Ende entgegen moderten. Es waren sogar in ein eigenartiges, mir völlig unbekanntes Leder gebundene Werke auf Pergament darunter. Schon die Titel erregten Ekel und Abscheu in mir, waren das doch solch absonderliche Werke wie "Von unaussprechlichen Kulten", "Cultes des Goules", "Witch Cults in Western Europe", "True Magick", "Book of Shadows" oder "Daemonolatreia". Auch Titel, deren Sprache oder Bezug mir vollkommen unklar war, waren darunter ("Zanthu Tablets", "Book of Dzyan", "Pnakotic Manuskripte", "R’lyeh Text" und "Necronomicon").

Aber halt, war nicht alles Papierne während des Brandes vernichtet worden? Ich selbst hatte doch die Aschereste inspiziert und dabei nur die Adresse der Frau B. auf einem winzigen Zettelchen gefunden. Und diese Bände hier schienen völlig unversehrt zu sein - von ihrem teilweise recht hohen Alter einmal abgesehen. Entweder hatte die versteckte Kammer die Bücher wirksam geschützt oder es hatte mit den Bänden eine besondere Bewandnis. Ich beschloß, einen befreundeten Bibliothekar, einen echten Kenner alter Werke, anzuschreiben und nach einigen dieser Titel zu befragen. Seine Antwort verwirrte mich maßlos - ich solle doch blos die Hände von diesen Folianten lassen, sie nicht einmal berühren, auf gar keinen Fall aufschlagen und lesen sowie keiner weiteren Menschenseele von ihrer Existenz berichten. Er würde sich in den nächsten Zug setzen und wäre sehr bald bei mir. Nun, das Berühren war nicht mehr rückgängig zu machen, meine Neugier und Wissbegierde hatte mich einige dieser Werke in die Hand nehmen lassen. Nachdem nun einige Tage verstrichen waren, ohne das ich weitere Lebenszeichen von meinem Bekannten erhalten hatte, begann ich mir Sorgen zu machen und schrieb einen weiteren Brief an ihn. Dieser Brief wurde von einem seiner Kollegen beantwortet, der mir mitteilte, daß mein Bekannter einem mysteriösen Unfall zum Opfer gefallen war. Dieser Unfall war insofern mysteriös, als das mein Bekannter wohl auf dem Weg zum Bahnhof in einer Art Trance vor ein Pferdefuhrwerk gelaufen war und seinen schweren Verletzungen erlag. Ich war zutiefst erschüttert. Hatte etwa gar mein Brief mit den darin enthaltenen Buchtiteln meinen Bekannten so aufgewühlt, daß er, jede Vorsicht vergessend, einfach zum Bahnhof lief? Zusammen mit seiner Warnung war das ja ein sehr deutlicher Hinweis, daß diese Bücher zumindest sehr ungewöhnlich oder wertvoll waren. Ich beschloss, einen Teil seiner Warnung zu befolgen und niemanden mehr über diese Bücher zu berichten. Der Unfall meines Bekannten war wirklich tragisch und ich konnte mir eine gewisse Mitschuld nicht absprechen, so daß ich es unverantwortlich fand, weitere Menschen mit einzubeziehen. Ich würde wohl meine Recherche alleine weiter betreiben oder sie ganz aufgeben müssen.

Da die von mir gefundenen Bücher zum großen Teil Titel hatten, die in den Bereich der Magie und der Zauberei fielen, sollte ich mir vielleicht erst einmal in dieser Richtung einen Überblick verschaffen. Als rationaler Mensch mit einer akademischen Ausbildung war mein Wissen über Zauberei sehr eingeschränkt. Ich hatte diese Thematik bisher mit einem Lächeln als Aberglaube abgetan, in meinem Weltbild war kein Platz für derartiges. Die Naturwissenschaften hatten in den letzten Jahrzehnten mit ihrem Fortschritt schlüssige Erklärungen für einen Großteil unserer Welt geliefert und mir schien, als wäre etwas wie Magie nur für Ungebildete oder schwache Naturen - ähnlich den Religionen. Mein Weltbild war zwar durch die Vorkommnisse um meinen Freund Treducio schon stark erschüttert worden, liessen diese doch eine naturwissenschaftliche Erklärung kaum noch zu. Aber - im Rückblick betrachtet - dies war nur der Anfang, was für Erschütterungen und Zerrüttungen sollte mein Bild der Welt schon bald erfahren.

Ich stellte mich also bei verschiedenen Bibliotheken als Privatgelehrter vor, der eine Erhebung über magische Kulte und Zirkel der Vergangenheit durchführen wollte. Nachdem ich einige ältere Werke, mit ähnlichem Inhalt, hatte lesen können, waren mir einige Rätsel meiner vorherigen Recherche doch klarer und auch einige lose Enden konnten miteinander verknüpft werden. So erfuhr ich, daß die schon erwähnten Bündnisse, die für die bösen Kreaturen kämpften, mit dem Wissen aus einigen der von mir gefundenen Bücher ihr Unwesen trieben. Am häufigsten wurde dabei das Buch mit dem Titel "Necronomicon" erwähnt, das augenscheinlich einen besonderen Stellenwert in dieser Welt des Okkulten besaß und besitzt. Nicht ohne eine gewisse Überraschung meinerseits erfuhr ich, daß aber eben diese Bände auch von den Gegnern verwendet wurden, ja häufig waren die Autoren der okkulten Werke zur Gruppe der Gegner zugehörig und die Bücher sind geschrieben worden, um Werkzeuge zur Vernichtung des Bösen und seiner Kreaturen für alle Zeiten zur Verfügung zu haben. Auch der Orden der Tempelritter und ihre Aufgabe konnte von mir klarer beleuchtet werden. Dieser Orden war tatsächlich ungleich älter, so wie ich es auch vermutet hatte. Er war gegründet worden, um Wissen, das nun im "Necronomicon" gesammelt vorlag, zu hüten und vor dem Mißbrauch zu schützen. Später dann (zur Zeit des Comte de Champagne) schützte er eine der wenigen Ausgaben dieses Buches und verhinderte auch eine weitere Ausbreitung dieses unsäglichen Buches und seiner Inhalte.

Nun soviel war schon nach einem kurzen Einblick in die Welt der Magie und des Okkulten klar, auch hier würde ich ziemlich sicher den Bund von Andrachar nicht finden. Aber ich war von dieser für mich neuen Welt fasziniert und beschloß meine ursprünglichen Ziele erst einmal hintenan zu stellen. Ich hatte ja nichts mehr als Zeit und für ein intellektuelles Abenteuer war ich halt sehr zugänglich. Mein Leichtsinn sollte nicht ohne Folgen bleiben, die Strafe folgte bald.

Ich nahm - in einer fast schon kindlichen Naivität - an, daß mein kurzes Eintauchen in die Welt der Magie mich genügend vorbereitet hatte, um die gefundenen Bände anzugehen und durchzulesen. Was wußte ich auch schon über die Schrecknisse die dort beschrieben wurden? Mag das als eine Erklärung für mein unverantwortliches Handeln auch herhalten können, eine Entschuldigung ist es nicht.

Da die häufigste Erwähnung in den okkulten Zusammenfassungen, und so wohl auch die höchste Wichtigkeit, das "Necronomicon" genoß, nahm ich mir dieses Buch als erstes vor. Schon die erste Berührung, das erste Streichen der Hände über den Einband erfüllte mich mit einem bis dato unbekannten Gefühl, ja fast schon an Ekstase grenzend. Ich nahm also das Buch aus dem Regal und hielt es in einem Moment höchster Verzückung in meinen Händen, bis ich es auf meinen Schreibtisch legte. Der Abend war nicht mehr weit und ich war mir sicher, daß ich beim Lesen nicht mehr bereit sein würde, eine Unterbrechung zu akzeptieren. Also zündete ich zuerst meine Schreibtischlampe an, kontrollierte das Kaminfeuer, legte noch etwas Holz nach und zog die Vorhänge vor. Nachdem ich mir noch ein Glas edlen Rotweines und einige Zigarren bereit gelegt hatte, setzte ich mich und schlug das "Necronomicon" auf. Die nächsten Stunden vergingen in einer Art Rausch und ich kann - bis heute - kaum beschreiben, was ich vorfand und las. Dabei hatte ich mich noch gar nicht bis zum eigentlichen Inhalt vorgearbeitet, sondern war noch beim Lesen der Vorworte und Einführungen. Was ich hier vor mir auf dem Schreibtisch hatte, war die Übersetzung eines Werkes eines Arabers namens "Abdul Alhazred", der Übersetzer war ein "Dr. John Dee". Dieser hatte dem Werk einiges an Bemerkungen vorangestellt, erwähnenswert sind dabei Referenzen in alte sumerische Kulte und Religionen sowie eine kurze Einführung in sumerische Schriftzeichen und Ausspracheregeln. Faszinierend für mich war die Beschreibung eines uralten Krieges, vor Äonen angefangen, zwischen dem Licht (dem Guten) und der Dunkelheit (dem Bösen). Hatte ich mich geirrt? Würde ich doch deutlichere Spuren zum Bund von Andrachar hier finden? Hier nun eine kurze Passage aus diesem Bereich:
    Und da war ein Krieg zwischen den Kräften der Dunkelheit und des Lichtes,
    Und dieser Krieg tobte Äonen bevor der Mensch erschaffen ward,
    Und er begann sogar bevor der Kosmos zu existierten anfing.
    Und es war ein Kampf der ALTEN
    Geführt von MUMMUTIAMAT, der Schlange, und ABSU, dessen Weib
    Und den ÄLTEREN GÖTTERN
    Geführt von MARDUK, Sohn des ENKI, Herr der Magier
    Und MARDUK gewann diesen Kampf.
    Und MARDUK formte den Kosmos aus dem Körper der Schlange
    Und ER schuf den Menschen aus dem Blute der Schlange.
Es mag mir nachgesehen werden, daß ich den obigen Ausschnitt zu einer moderneren Sprache hin in Ausdruck und Wortwahl veränderte.
Als ich bis zu dieser Beschreibung vorgedrungen war, graute bereits der Morgen, das Feuer im Kamin war ausgegangen und ich fühlte mich müde und ausgelaugt. Ich stellte das "Neconomicon" zurück in das geheime Regal, schloß die Geheimtür und legte mich zu Bett. Noch bevor ich einschlief nahm ich mir vor, daß diese nächtliche Eskapade nicht mehr wiederholt werden dürfte. Ich wollte - schon meiner Prinzipien zuliebe - meinen geregelten Tagesablauf nicht aufgeben. Doch zuerst wollte der Schlaf einfach nicht kommen, mein Gehirn war noch zu eifrig und versuchte das Gelesene zu verarbeiten. Hatte nun dieser sogenannte "Marduk" nur den einen Kampf gewonnen oder den Krieg? War unser Kosmos und auch die gesamte Menschheit so zur "Erbsünde" gekommen, erschaffen aus Körper und Blut des Bösen? Waren hier nicht Andeutungen zu der Genesis im Alten Testament vorhanden? Die Schlange als Verkörperung des Bösen, des Dunklen war ja ein in der Bibel mehrmals auftauchendes Thema. Und die Schöpfung des Menschen aus dem Blut der Schlange konnte man ja als eine pervertierte Form der im Alten Testament beschriebenen Schöpfung betrachten ("...nach meinem Ebenbilde..."). Hier waren wieder Referenzen und deutliche Bezüge zu den Annahmen und Gedanken des Kultes der "Gnostiker" vorhanden, die ja alles Materielle als böse und vom Satan (der Schlange!) erschaffen ansehen. War die Geschichte dieses Kampfes und der nachfolgende Schöpfungsakt die Basis für die Anschauung der Gnostiker? Diese und ähnliche Fragen und Gedanken schossen mir durch mein Hirn und bildeten bald schon ein schier unentwirrbares Knäuel, das mich noch lange wach hielt. Letztendlich aber siegte meine Mattigkeit und ich schlief ein.

In diesem Schlaf kamen seit langer Zeit zum ersten Mal sehr unschöne Träume zu mir. Eine genauere Erinnerung ist mir nicht geblieben, mehr ein Gefühl der Angst und des Schreckens, sich wiederholende Geräusche und Gesänge in einer furchtbaren Sprache, deren Klang meinen Körper zum Frösteln brachten.

IA! IA! ZI AZAG! IA! IA!! ZI AZKAK! IA! IA! KUTULU ZI KUR! IA!

Ich erwachte am frühen Nachmittag und war noch immer müde und matt. In meinem Kopf breitete sich ein Gefühl der Leere aus, dass ich sonst nur von fiebrigen Erkrankungen her kenne. Ich fieberte aber nicht und dachte mir, dass ein kräftiges Mahl und ein längerer Spaziergang an frischer Luft die Mattigkeit und Leere wohl vertreiben werden würde. Und so war es auch, nach einem guten Mittagessen und einer ausgedehnten Wanderung erreichte ich wieder mein Haus kurz nachdem die Dunkelheit angebrochen war. Meine Stimmung war wieder gut, die Müdigkeit wie weggeblasen und mein Forscherdrang wieder erwacht. Jedoch verordnete ich mir einen Ruhetag in Bezug auf Studien im "Necronomicon" und griff stattdessen zu einer leichten Lektüre, um mir die notwendige Bettschwere zu verschaffen. Der Rest des Abends verlief ruhig und der sich anschliessende Schlaf war ohne Alpträume und sehr erholsam.

Am nächsten Morgen erwachte ich dementsprechend frisch, munter und ausgeruht. Die Sonne schien und es war ein wunderbarer Wintermorgen, fast schien der Herbst noch einmal zurückgekehrt zu sein. Nach einem ausgiebigen Frühstück - ich hatte ja am Vortage eine Mahlzeit ausgelassen und das stärkte meinen Appetit - ging ich in die Bibliothek und las weiter im "Necronomicon". Nach der Beschreibung des obig erwähnten Kampfes folgten etliche Absätze, die versuchten den Nachweis zu erbringen, daß die Religionen dieser Welt in vielerlei Bezug zueinander und zu allen gemeinsamen, sehr alten Geschehnissen standen. Dieser Bereich langweilte mich zwar etwas, ich fand aber auch einiges an Neuem, daß mir die früheren Studien der Geheimbünde in einem neuen Licht erscheinen ließ und dunkle Stellen auf meiner Landkarte des Wissens erhellte. Mir war - als ein Beispiel - bis dato unbekannt in welchem Ausmaß die sumerische Kultur die griechische und römische (und damit ja auch unsere heutige, sogenannte westliche Kultur) beeinflußt hatte. Auch hatte ich mir bisher noch keine Gedanken über die Veränderung des Satanbildes von der vorbiblischen bis in die heutige Epoche gemacht. Für einen rational denkenden Geist ist es schon erstaunlich, daß "Luzifer" (der Lichtbringer) sich in eine Verkörperung des puren Bösen verwandeln konnte, wenn man sich denn damit einmal befasste.

An diese Kapitel angeschlossen war ein Abriß über die Geschichte des "Necronomicon". Die mir vorliegende Übersetzung war nicht direkt aus dem Urwerk des Arabers Abdul Alhazred hervorgegangen, sondern (sozusagen) über mehrere Sprachen gewandert. Bei der Übersetzung in das Griechische wurde von diesem Übersetzer der Titel "Necronomicon" gewählt, der eine Zusammenfassung mehrerer griechscher Worte zu einem Kunstwort darstellte und sich wohl am besten als "Das Buch der toten Namen" übersetzen läßt. Es wurde aber mehrmals und sehr überzeugend darauf verwiesen, daß bei der Übersetzung keinesfalls Inhalte hinzugekommen oder verfälscht worden wären. Insbesondere bei den enthaltenen Beschwörungen hätte dies ansonsten wohl fatale Folgen nach sich ziehen können. Nun gut, man mag diese Aussagen für bare Münze halten oder daran zweifeln. Selbst den Übersetzern schien der Geisteszustand des arabischen Autoren aber wohl fraglich, betitelten sie ihn doch als den "verrückten Araber" - das mag aber auch wirklich als eine Art Titel anzusehen sein.

Ich hatte über das Lesen schon wieder die Zeit vergessen, die Mittagsstunde war schon deutlich vorbei. Eine kurze Unterbrechung schien mir angebracht zu sein und auch mein Magen meldete sich. Als ich dann wieder in die Bibliothek ging, um weiter zu lesen, dämmerte es bereits und ich mußte die Lampe entzünden, um die heraufziehende Dunkelheit zu erhellen. Dabei hatte ich ein ganz eigenartiges Gefühl, eine Art innere Stimme warnte mich davor, ohne das die Dunkelheit vertreibende Sonnenlicht, dieses Buch auch nur zu berühren. Diese Warnung ignorierend setzte ich mich und begann das Vorwort des arabischen Autoren zu lesen. Der Stil den dieser Mensch verwendete, zog mich sofort in seinen Bann. In einer sehr nüchternen Art und Weise erzählte er ganz einfach und wenig ausschmückend von furchtbaren und entsetzlichen Dingen, die er erlebt hatte. Eine kurze Probe mochte ich nicht vorenthalten, einen ausführlicheren Auszug niederzuschreiben, sträubte sich aber meine Feder:
    "...I must put down here all that I can concerning the horrors that stalk Without, and which lie in wait at the door of every man, for this is the ancient arcana that has been handed down of old, but which has been forgotten by all but a few men, the worshippers of the Ancient Ones (may their names be blotted out!)... For this is the Book of the Dead, the Book of the Black Earth, that I have writ down at the peril of my life, exactly as I received it... And if I do not finish this task, take what is here and discover the rest, for time is short and mankind does not know nor understand the evil that awaits it..."
Hier war der nun nicht zu übersehende Hinweis auf Frevler enthalten, die diese Kreaturen anbeteten und für sie ihren unsagbaren Ritualen nachkamen, wobei das Wort "böse" als eine milde Untertreibung anzusehen ist. Die menschliche Sprache enthält wohl kein Wort zur angemessenen Beschreibung ihres Tuns. Und das diese Kreaturen außerhalb unseres Kosmos auf der Lauer liegen, um zurückzukehren auf diese, unsere Erde, war eine Aussicht, die meine Stimmung nicht bessern konnte.

Und der verrückte Araber beschrieb weiter sein Tun und Treiben, die Gegenden, die er bereiste und die nicht für Menschen bestimmt waren. Und er beschrieb die Tore, vor denen die ALTEN Wache halten und warten, bis Ihre Zeit gekommen ist. Und er beschrieb, daß und wie er mit Göttern und Dämonen gesprochen hatte, als wäre er Ihresgleichen und er fürchtete sich vor Ihrem Zorn und Ihrer Vergeltung. Und gar den Tode selbst hatte er getroffen, doch war es noch nicht seine Zeit.

Diese Beschreibungen, die ja Taten darlegten, die zumindest in den Bereich der Sagen und Legenden gehörten, waren aber gerade durch ihre Nüchternheit so überzeugend, daß ich an keinem dieser Worte zweifelte. Immerhin war dieser Mensch arabischer Herkunft und die Araber sind ja für ihre blumige und ausschweifende Sprache bekannt. Auch wird der Zauber jenen, die das Buch nicht gelesen haben, die die von den Worten und Sätzen ausgehende Dringlichkeit nicht erleben konnten, wohl verborgen bleiben. Dieser Mann war entweder vollkommen verrückt oder ein Genie des Okkulten. Die vorgerückte Stunde mag das ihrige dazu beigetragen haben, mich zu überzeugen.

Hatte der Autor bis zu diesem Punkt eine Art Überblick über sein Leben gegeben, so folgte nun eine recht ausführliche Beschreibung des zufälligen Beiwohnens einer Beschwörung, die er nur durch pures Glück überlebt hatte. Seine Entdeckung während dieser Beschwörung (es schien sich um die Öffnung eines Tores gehandelt zu haben), störte den Vorgang in einer Art und Weise, daß die verwendete Magie auf die Frevler zurückschlug und diese einen schrecklichen Tod erlitten. Was mich aber nun an dieser Beschreibung besonders entsetzte, war ein Teil der zu singenden Beschwörungsformel:

IA! IA! ZI AZAG! IA! IA!! ZI AZKAK! IA! IA! KUTULU ZI KUR! IA!

Als ich diese Gesänge in meinem Traum hörte (oder glaubte zu hören), hatte ich noch nichts von ihnen gewußt! Wie konnte ich diese Formel kennen? Wie konnte sie mir in einem Traum zu Ohren kommen? Ich wußte, ich mußte für diesen Tag (und vielleicht für einen längeren Zeitraum) mit Lesen aufhören. Ansonsten wäre ich nahe daran gewesen meinen rationalen Verstand zumindest zu beschädigen. Und doch fiel es mir unglaublich schwer meine Augen von dem Text zu nehmen. Es war, als würde eine magnetische Kraft meinen Blick auf die Zeilen lenken und den Rest meines Willens brechen wollen. Aber es gelang mir aufzustehen, das Buch auf das Regal zu stellen und die Geheimtür zu schließen. Innerlich aufgewühlt setzte ich mich noch einen Moment lang in meinen Sessel am Schreibtisch und blickte in die Leere des Raumes. Aus den schattigen Ecken schien sich die Dunkelheit auf den Lichtkegel der Lampe zuzubewegen, als wollte sie den Lichtschein verschlingen. Ein scharfer, brennender Geruch stach in meine Nase, ein Geruch, wie ich noch nie zuvor bemerkt hatte. Widerwillig stand ich auf, nahm einen Kerzenleuchter zur Hand (ich wollte keinesfalls ohne Licht durch das dunkle Haus in meinen Schlafraum gehen), zündete die Kerzen an und ging zu Bett. Den brennenden Kerzenleuchter ließ ich neben meinem Bett stehen.

Von der nun folgenden Nacht und dem Schlaf, den sie mir brachte, als unruhig zu sprechen, wäre untertrieben. Doch auch diesmal entschied mein Gedächtnis, daß eine deutliche Erinnerung an die Träume, die mich heimsuchten, unnötig wäre. Mir verblieben nur Fragmente, dunkle Schatten, die sich um mich scharrten, Gesänge, denen die Schreie gequälter Kreaturen überlagert waren und über allem das Gefühl von dem Blick eines dunkelbrennenden, lidlosen Auges beobachtet zu werden. Ich erwachte in meinem vollkommen durchgeschwitzten Bettzeug während des Morgengrauens, die Sonne schickte sich gerade an ihre Strahlen über die Erde zu ergiessen. Mein erster, sozusagen instiktiver Impuls war, die Vorhänge vorzuziehen. Dann kam eine ganze Kette an Gedanken in mein Hirn:
vielleicht sollte ich meine Prinzipien anpassen, das "Necronomicon" lieber während der Nacht lesen, die Nacht ist mit ihrer dunklen Schönheit und dem sanften Mondlicht die angenehmere Zeit und so dem Tage vorzuziehen, sollten sich die Leut' doch wundern, niederes Gewürm, ungebildetes Pack, was macht's.
Schon wollte ich aufstehen, die Vorhänge zuziehen und so dieser Kette an Gedanken nachgeben, als mir etwas anderes in den Sinn kam "...Die Wahrheit suchen, dem Lichte zu zustreben, Ist ihm auch das denn wichtig noch, So ward ein neuer Genosse wohl gefunden..." und dieser Gedanke vertrieb die vorherigen unverzüglich. Ich setzte mich auf in meinem Bett und fing an zu überlegen. Was geschah hier und was geschah mit mir? Nicht das ich jemals Angst vor der Dunkelheit oder der Nacht gehabt hätte, aber der Tag und der Schein der Sonne war mir einfach lieber. Die Nacht zum Tage machen, das war eine mir völlig fremde Idee. Auch empfand ich noch niemals ein Gefühl der Überlegenheit gegenüber meinen Mitmenschen, besäßen sie auch eine geringere Bildung, als ich sie erfahren durfte. Ich schüttelte mich, um die letzten, befremdlichen Gedanken zu vertreiben, stand auf und schaute aus dem Fenster. Es war ein wunderbarer Morgen und es würde einer dieser kalten, aber trotzdem einfach schönen Tage werden, die es nur im Winter geben kann, voller klarer, frischer Luft.

Als ich dann die Bibliothek betrat, fielen auch hier Sonnenstrahlen durch die Fenster und tauchten den Raum in ein sehr angenehmes Licht. Ich öffnete die Geheimtür und wollte gerade das "Necronomicon" herausnehmen, als mir ein leichtes Glitzern und Funkeln zwischen zwei Bänden in einem unteren Teil des Regals auffiel. Ich schob die beiden betreffenden Bände etwas auseinander und sah ein loses Blatt Pergament, auf dem die Sonnenstrahlen ihren Zauber trieben, als wäre das Blatt mit Metallflittern bestäubt. Natürlich nahm ich das Blatt umgehend in meine Hände und betrachtete es genau. Es schien auf den ersten Blick leer und unbeschrieben zu sein. Doch bei eben einer genaueren Inaugenscheinnahme schien es, als würde dies Glitzern die Form von Buchstaben besitzen. Ich trat näher an das eine Fenster und hielt das Pergament leicht schräg, doch in eben diesem Moment schob sich eine Wolke vor die Sonne. Enttäuscht legte ich das Blatt auf meinen Schreibtisch, in Hoffnung auf ein Weiterziehen der Wolken, und holte das "Necronomicon" von seinem Platz. An diesem Tage aber blieb der Himmel wolkenverhangen, so als wollte er mich und mein Vorhaben bezüglich des Pergamentes einfach verspotten.

Als ich mich an meinen Schreibtisch gesetzt hatte, zögerte ich noch einen kleinen Moment, bevor ich das "Necronomicon" aufschlug. Zuerst fasste ich einen, nein, zwei Beschlüsse: ich würde von nun an unter keinen Umständen länger als bis zur Mittagszeit lesen und ich würde meine Erkenntnisse und das Geschehene in Form von Notizen niederschreiben. Die fremdartigen Anwandlungen beim Aufwachen waren mir auch jetzt noch unheimlich und ich wollte nicht, daß sie sich allzuoft wiederholten. Es sei angemerkt, daß derartige Ausbrüche von diesem Tage an anfallartig vorkamen, doch konnte ich sie noch jedes Mal unterdrücken und meinem Selbst die Oberhand gewinnen. Und das Niederschreiben schien mir sowohl eine gute Therapie zu sein, als auch von Nutzen für spätere Recherchen (und auch zur Stützung meines Gedächtnisses, im Falle eines längeren "Anfalls" meinerseits). An eine Veröffentlichung dachte ich damals nicht, mir war es aber dennoch wichtig, keine Einzelheiten aus dem "Necronomicon" oder den anderen Bänden in meinen Notizen schriftlich festzuhalten.

Nach einigen Stunden des Lesens und Studierens verspürte ich Hunger und hörte für diesen Tag mit meiner Recherche auf. Die Zeit nach dem Mittagessen verbrachte ich mit einem Spaziergang, leichter Lektüre, einem wenig Rotwein und einigen Zigarren. Diese Nacht verlief nicht unruhig, sondern um vieles schlimmer, als alles bisherige:
mir träumte, daß ich zu einem Stein ging, um den eine Gruppe Menschen in sonderbaren Umhängen standen und eine Lithurgie sangen. Die anderen hiessen mich willkommen und es schien, als hätten sie nur auf meine Ankunft gewartet. Einige - mir eigentlich unbekannte - Gesten mit beiden Händen beschreibend, begann ich eine neue Strophe der Lithurgie und erwachte in meiner Bibliothek, in meinem Sessel am Schreibtisch sitzend, das "Necronomicon" aufgeschlagen vor mir liegend. Meine rechte Hand hatte wohl beim Beschreiben der Gesten jene leere Seite berührt, die ich am vorherigen Tage zwar gefunden, aber wegen des Mangels an Gelegenheit noch nicht näher untersucht hatte. Mein Kopf fühlte sich an, als wäre er arg geschwollen, meine Beine als hätten sie einen langen Weg zurücklegen müssen und jeder Knochen meines Körpers ließ mich sein Vorhandensein spüren. Als erstes entzündete ich meine Schreibtischlampe und nachdem ich das "Necronomicon" wieder zurückgestellt sowie die Geheimtür geschlossen hatte, nahm ich mir etwas zu trinken und eine Zigarre und dachte nach. Seit wann neigte ich denn zum Schlafwandeln? Wieso hatte mich das Berühren des leeren Blattes aufwachen lassen? Ich griff nach dem Blatt und hielt es dicht vor die Lampe. Die am Tage vom Sonnenlicht erkennbar gemachten Schriftzeichen blieben beim Licht der Lampe unsichtbar. Um gleich am nächsten Morgen bei den ersten Sonnenstrahlen dieses Blatt näher zu betrachten und das auch nicht zu vergessen, heftete ich das Blatt auf die Geheimtür und ging wieder zu Bett. Der Rest der Nacht verlief ungestört.

Ich erwachte am nächsten Morgen und erfuhr unverzüglich eine Enttäuschung: die Sonne war hinter dichten, dunklen Wolkenpaketen verborgen (und dies blieb zu meinem Leidwesen so auch für den Rest dieses und der nächsten Tage). Ansonsten verging dieser Tag wie der vorherige und in den nächsten Tagen stellte sich eine Art Routine im Ablauf ein - Studium des "Necronomicon" bis zum Mittagessen und anschließend dann ein längerer Spaziergang, etwas unterhaltsame Literatur und ein frühes Zubettgehen. Nur die Nächte und die dann kommenden Träume boten eine gewisse Abwechselung, wenn auch keine angenehme oder gar gewünschte.
    Ich durchwanderte eine wüstenartige Landschaft mit einer Himmelsfarbe, die es auf dieser Welt zu meiner Zeit nicht geben konnte und durfte. Dicht vor mir waren die Türme und Mauern einer Stadt zu sehen, deren Architektur nicht von Menschen erdacht worden sein konnte und wenn doch, so hatten sie noch nie von Euklid hören können. Die Winkel, in denen die Türme in die Höhe strebten, waren irrwitzig und die Art der Anordnung der Gebäude zu Mustern, Straßen und Plätzen konnte von einem menschlichen Verstand kaum erfasst werden, geschweige denn verstanden. Ich ritt zu dieser Stadt als Teil einer Karawane auf eigenartigen Tieren sitzend, die in einem schaukelnden Gang, der wohl auch Kamelen zum Unwohlsein verholfen hätte, langsam einen Weg verfolgten.

    Ich lief durch einen steinernen Gang, der an seinen Wänden mit einem durchgehenden Fries und, von Zeit zu Zeit, mit Darstellungen geschmückt war. Durch gelegentliche Fenster war der Ausblick auf hohe Berge und eine tropische Landschaft gegeben. Es herrschte in dem Gang eine recht hohe Betriebsamkeit und die Luft war angefüllt von einem Brummen, wie von riesigen Hummeln und Bienen. Ich wußte, ich mußte mich eilen und ich wußte auch in meinem Innern, daß mein Ziel eine Universität wäre und ich nicht zu spät zu einem Vortrag kommen dürfe.

    Ich erwachte - in meinem Traum wohlbemerkt - in einer Stadt in tiefer Dunkelheit, doch war Licht unnötig für mich. Die Stadt war von ihrem Stil fremdartig, unirdisch, aber sehr beeindruckend gestaltet. Gebaut war sie aus riesigen schwarzen Quadern, aus einem mir unbekannten Mineral, das eventuell vorhandenes Licht wohl aufgesogen hätte wie ein Schwamm. Doch wußte ich genau, daß diese Wände noch niemals während ihrer uralten Geschichte mit Sonnenlicht in Berührung gekommen waren. Ich ging durch eine Art Palast zu einem Tore, vor dem ich in einer uralten Sprache intonierte:
    PH'HGLUI MGLW'NAFH CTHULHU R'LYEH WGAH'NAGL FHTAGN!
    Selbst hier in diesem Abgrund aus Schwärze, lichtlos seit Anbeginn der Zeit, waren Schatten und aus diesen Schatten krochen bei meinen Worten schleimige, protoplasmische Gestalten, namenloses Entsetzen mit sich tragend.

    Und ich betrat diese Stadt ein zweites Mal, wohl wissend nun, daß diese Stadt R'lyeh war, bedeckt mit einem ganzen Ozean. Ich ging auch diesmal vor das nämliche Tor und ich wußte, daß hinter diesem Tor der große Cthulhu lag, träumend und wartend.
    IA! SHADDUYA IA! BARRA! BARRA! IA KANPA! IA KANPA! ISHNIGARRAB! IA! NNGI IA! IA!
    Und diesmal hörte ich eine Stimme in mir Worte flüstern, doch so leise waren diese Worte geflüstert, daß ich sie zuerst nicht verstand. Und dann sah ich in einem der Schatten, geworfen von einer der zahllosen Säulen, ein Licht auftauchen, ein Licht hier an diesem Ort, der doch die Anwesenheit von Licht noch nie gespürt hat. Und aus diesem Licht schälte sich die Form eines Gesichtes und dieses Gesicht, das war mir wohl vertraut und die Lippen in diesem Gesicht, sie formten Worte, Worte die ich wohl verstand, die ich dennoch nicht verstehen wollte. Und die Lippen und der Mund entfernten sich und wurden größer und größer. Und mit der Weite und mit der Entfernung erstarkte das Verstehen und die geflüsterten Worte marterten mit ihrer brüllenden Lautlosigkeit meine Ohren
    Tu's nicht! Tu's nicht! Tu's nicht!
    und ich ließ es.
An dem Morgen nach diesem letzten Traum schien die Sonne mir beim Aufwachen in die Augen und der Himmel war von einem makellosen Blau, ohne durch die kleinste Wolke gestört zu werden. Sofort stand ich auf, ging noch in meinem Morgenmantel hinunter in die Bibliothek und nahm das leere Blatt Pergament zur Hand. Das Blatt in das Sonnenlicht haltend, suchte ich nach Zeichen oder Ornamenten. Es dauerte auch gar nicht lange, bis das Funkeln und Glitzern einsetzte, so daß ich auch bald einen Text erkannte und abschreiben konnte. Eigenartiger Weise und zu meiner eigenen Überraschung schien mir die Sprache, in der der Text verfasst war, geläufig zu sein.
    Drei dem Feuer, lodernd gar hell
    Drei dem Wasser, fliessend so schnell
    Drei der Luft, stürmisch und klar
    Drei der Erd, tragend und starr
    Eins dem Kreis, die and'ren zu lenken
    Ihnen ihre Kraft zu schenken
    Immer und überall sie zu finden
    Zur rechten Zeit sie wieder zu binden
    Zum Wohl' von dem, was lang' schon war
    Dem Bund um den Stein von Andrachar
Aber die Bedeutung dieses Gedichtes war mir doch ziemlich unklar. Obwohl, meinem durch das Beschäftigen mit Mysteriösem und Okkultem, im Umgang mit Geheimnissen geschulten Verstand kamen unversehens einige Vermutungen und Schlußfolgerungen in den Sinn. Feuer, Wasser, Luft und Erde waren ja die vier Elemente, denen hier jeweils drei einer Art zugewiesen wurden. Vier mal drei war aber zwölf und wie hieß es doch "...Zwölfe sollten's sein, ein volles Dutzend wohl..."? Die vier mal drei konnten ja doch nur "etwas" für die Draks der Hüterin sein. Blieb noch "...Eins dem Kreis, die and'ren zu lenken...", womit wohl das gleiche oder zumindest sehr ähnliche "etwas" für die Hüterin gemeint war, die nach meinem Kenntnisstand die Draks leiten und lenken würde und der angesprochene Kreis mußte einfach der Erdkreis als Synonym für den kompletten Kosmos sein! Das Ergründen dieses kleinen Geheimnisses hatte mir großes Vergnügen bereitet. Zwar hatte ich noch keine vollständige Lösung und auch keine Bestätigung, daß meine Vermutungen richtig waren, doch war ich mir darüber ziemlich sicher und der kleine Rest würde sich mit einigem Nachdenken auch noch lösen lassen.

Und dann dachte ich zurück an diesen letzten Traum, der der furchtbarste von allen gewesen war. Er war mir mit einer Klarheit und Deutlichkeit im Gedächtnis geblieben, als hätte ich ihn tatsächlich erlebt. Warum in aller Welt, war mir Treducio mit einem Male erschienen (denn sein Gesicht war es, daß aus dem Schatten mit einem Male aufgetaucht war)? Und was sollte ich nicht tun und was habe ich ja dann auch gelassen? Wo liegt nur R'lyeh, bedeckt mit einem ganzen Ozean, und was oder wer mag blos der große Cthulhu sein? Immerhin war nun der Titel eines der Bücher geklärt, das Buch mit dem Titel "R'lyeh Text" mußte wohl über diese Stadt unter dem Ozean handeln oder zumindest damit zusammenhängen.

Auch der Traum davor hatte mich ja in diese Stadt unter dem Ozean und vor ein Tor geführt. War dies eines der Tore hinter denen die ALTEN lauerten? Gehörte der große Cthulhu zu diesen und wartete dort auf seine Zeit? Hatte ich etwa im Traum eines der Rituale begonnen, die die Öffnung eines Tores bewirkten? Hätte ich also Cthulhu befreit, wenn mich Treducio nicht dabei gestört und aufgehalten hätte? Diese Fragen bildeten sich in meinem Hirn und konnten natürlich ohne ein weiteres Studiums des "Necronomicon" nicht geklärt werden. Auf Grund der thematischen Nähe würde ich wohl auch einen Blick in den "R'lyeh Text" werfen müssen. Ich kleidete mich an und setzte mich dann an meinen Schreibtisch, um meine Recherche fortzuführen. Im "R'lyeh Text" fand ich auch einige Klarheit. Ja, in diesem Traum habe ich ein Ritual zur Befreiung von Cthulhu begonnen. Dem Himmel sei Dank, daß ich dieses Ritual nicht beenden konnte. Es war zwar nur ein Traum, aber wer weiss, was dieser Traum alles ausgelöst hätte, so er denn nicht unterbrochen worden wäre.

Die diesem Tage folgende Nacht brachte eine Wende in Bezug auf meine Träume mit sich. In diesem ersten Traum stand ich auf einer mir nicht unbekannten Steppe am Fuße eines Hügels, der von silbrigem Mondlicht beschienen wurde.
    Auf diesem Hügel stand eine Felsgruppe und vor einem dieser Felsen brannte ein Feuer. Die Szene (und die Gegend) war mir bekannt, weil sie identisch war mit einer Landschaft, die der verrückte Araber in seiner Einleitung geschildert hatte. Ich näherte mich dem Feuer und sah beim Näherkommen, daß ein Mensch, versteckt unter einem Kapuzenmantel, sich hinter dem Feuer an den Felsen lehnte. Um genau zu sein, ich sah ihn erst, als er die Kapuze zurückschlug. Vorher hatte der Mantel, der die Farbe des Felsens hatte, ihn vollständig vor meinem Blick verborgen. Er erhob seinen Kopf und das Feuer beschien sein Gesicht. Freudig näherte ich mich diesem Mann und begrüßte ihn herzlich. Er lächelte mich an und sprach:
      Froh ist mein Herz, das du wohl schafftest, woran so viele schon gescheitert sind.
      Es ist nicht leicht, sich zu entziehen dem Griff des alten Wissens.
      Doch deine Kraft liegt wohl im Wort und so gefährden Worte dich nicht allzusehr...
      Erstaunt bin ich, dass du in so kurzer Zeit gelöset hast das Rätsel.
      Wir brauchten lange, bis die Nachricht uns ward klar und wir waren Eine und die Zwölf.

      Wunderst du dich über diesen ersten Ort, der dir ist doch nicht gänzlich unbekannt?
      Er ward von mir gewählt zur Ehr' ein's früh'ren Gefährten, der hier einst sein' lange Reis' begonn' hat.
      Zu lang war diese Fahrt, zu vieles mußte er ertragen, was nicht für einen Menschen ist bestimt.
      Das Wissen, das er sich erwarb, ward nicht von dieser Welt, verbrannte Ihn, verbrannte seinen Geist.
      Ich hoff', nun hat die Ruhe er wohl noch gefunden, zu hoffen ist's für ihn und auch für uns.

      Und für dich sollt' dies denn sein auch eine Lehr'.
      Aufgedrückt wurd' dir ein Siegel, ein Siegel von den ALTEN, eine schwere Last.
      Dies' Last kann niemand von dir nehmen, nur Hilfe geben und dies wird auch gescheh'n.
      Du warst ein treuer Freunde mir in sehr dunkler Zeit,
      du hast getan, was ich dich hab gebeten, ohn' Furcht und ohne Zaudern gar.
      So stehe ich wohl tief in deiner Schuld und diese Schulden zu begleichen, ist mehr als schnöde Pflicht für mich.
      Fahr' fort mit dem, was du begonnen hast, doch übe Vorsicht allezeit und denke an das ÄLTERE ZEICHEN...
    Nach diesen Worten stand er auf, löschte das Feuer und ging den Hügel hinunter. Ich sah ihm lange nach, bis er vom Horizont verschluckt wurde. Aus einem Impuls heraus schaute ich auf das ausgetretene Feuer und sah etwas metallisches in der Asche. Ein wenig Stöbern förderte ein Amulett zu Tage, das ich mir in meine Jackentasche steckte ohne es weiter zu betrachten.
Nach dem Aufwachen war mir dieser Traum (und auch die später noch folgenden) sehr präsent, an jedes Wort konnte ich mich entsinnen, als wäre unser Treffen in mein Hirn eingebrannt worden. Ich lag wach in meinem Bett und dachte über die Worte von Treducio nach (ja, niemand anderes als Treducio war es, den ich im Traum getroffen hatte). Was er wohl meinte, als er sagte "...Doch deine Kraft liegt wohl im Wort und so gefährden Worte dich nicht allzusehr..." ? Meine Gefährdung duch das Studium des "Necronomicon" empfand ich als durchaus real und hatte nicht mein Studium einige sehr unangenehme Träume (und wer weiss, was sonst noch) ausgelöst? Dafür stimmte mich natürlich seine Bestätigung meiner Annahmen über das kurze Gedicht recht fröhlich. Was sonst hätte er meinen können mit dem Hinweis auf das Rätsel, das ich gelöst hätte. Ansonsten aber sprach Treducio für mich vornehmlich in Rätseln, zu vieles war mir nicht vollständig klar. Sein früherer Gefährte war doch nicht etwa der Araber, der das "Necronomicon" verfasst hatte? War dieser Mensch zu seiner Zeit ein Drak, der aber zu tief in unseelige Geheimnisse eingedrungen war und so sein Leben verwirkt hatte? Das konnte eigentlich die einzige schlüssige Erklärung des Erzählten sein. Und ich sollte mich wohl vorsehen, daß ich nicht eine ähnliche Zukunft vor mir hatte. Aber hatte ich denn eine Zukunft als Drak vor mir? Ich als Kämpfer für das Gute, das Licht? Eine derartige Verantwortung mittragen? Das wäre vielleicht eine hübsche Vorstellung, doch wäre eine solche Last nicht viel zuviel für mich?

Und was meinte er nur mit "...Aufgedrückt wurd' dir ein Siegel..."? Nun ja, nach den Erkenntnissen aus meinen Studien wußte ich natürlich, daß durch eine Beschwörung so etwas wie ein "magisches Band" zwischen dem Beschwörer und dem Beschwörten (oder Gebannten) entstand. Zielte Treducio darauf ab und hatte ich durch mein im Traum angefangenes Ritual vor dem Tor in R'lyeh etwa ein derartiges "magisches Band" geknüpft, ein "Siegel" von einem der ALTEN empfangen? Reichte gar das Studium der Inhalte des "Necronomicon", um dieses "Siegel" zu erhalten? Mein derzeitiger Wissensstand reichte einfach nicht aus, um alle diese Fragen zu beantworten. Ich stand also aus meinem Bett auf, zog mich an und ließ mir von meiner Haushälterin ein kräftiges Frühstück bereiten. Noch ganz in Gedanken steckte ich beide Hände in meine Jackentaschen (eine meiner eher dummen Angewohnheiten) und lehnte mich an den Türrahmen zum Esszimmer. Meine rechte Hand fühlte dabei etwas hartes in der Jackentasche. Ich umschloß mit der Hand diesen Gegenstand und befühlte ihn in der Tasche. Schon das erste Tasten ließ mich leicht taumeln, ich ertastete ein Amulett!

Ich mußte mich erst einmal am Türrahmen abstützen, darauf war ich nicht vorbereitet. Meine Haushälterin brachte gerade das Frühstück und stellte das Essen auf den Tisch. Ich mußte mich also zusammen nehmen, um keinerlei Argwohn in ihr zu erwecken. Auch nachdem sie den Raum verlassen hatte, ließ ich das Amulett erst einmal in der Jackentasch und widmete mich meinem Frühstück - alles zu seiner Zeit. Ich schien etwas abgebrühter geworden zu sein, was den Umgang mit "praktischer Magie" anging. Als ich das Essen beendet hatte, ging ich in die Bibliothek und zog die Vorhänge vor. Dann holte ich das Amulett aus der Tasche und betrachtete es genau. Das eingravierte Zeichen kam mir vage bekannt vor und ich suchte ihm "Necronomicon" nach einer entsprechenden Zeichnung. Nach einer nur kurzen Suche wurde ich fündig: das Amulett zeigte das sogenannte "ÄLTERE ZEICHEN" der ÄLTEREN GÖTTER zum Bannen der ALTEN. Mir kam der Ausspruch von Treducio ("... nur Hilfe geben und dies wird auch gescheh'n"...) in den Sinn. Er hatte Wort gehalten, doch wie hatte er das geschafft? Wie konnte ich aus einem Traum einen materiellen Körper mitnehmen? Ich hatte wohl in Bezug auf Magie noch einiges zu lernen.

Neben der Darstellung des Zeichens war auch eine, man verzeihe mir meine Ausdrucksweise, Gebrauchsanleitung im "Necronomicon" enthalten. Bis jetzt hatte ich noch keinen Fehler begangen, das Amulett sollte noch wirksam sein. Ich befestigte es an einer silbernen Halskette und trug es von diesem Moment an ständig um meinen Hals (und ich trage es noch heute).

Die nächsten Tage und Wochen vergingen gleichförmig. Ich hielt mich an den Ratschlag von Treducio und fuhr in meinem Studium der okkulten und magischen Werke fort, nahm dabei nicht nur das "Necronomicon" zur Hand, sondern arbeitete mich durch restlos alle Bände, die ich in dem Regal hinter der Geheimtür gefunden hatte. Nähere Ausführungen zu den Erkenntnissen, die ich aus den Büchern zu ziehen in der Lage war, wurden von mir aber aus naheliegenden Gründen nicht mehr in meine Notizen aufgenommen.

Mit dem Tage an dem ich das Amulett um meinen Hals legte, verschwanden die anfallartigen Wesensänderungen und die Alpträume aus meinem Leben. Dafür wurden meine Nächte mit höchst interessanten Träumen und Begegnungen mit Treducio erfüllt, von denen ich einige Schilderungen in meinen Notizen festgehalten habe, die in chronologischer Reihenfolge aufgeführt sind. Unsere Treffen waren nicht nur auf Grund der Tatsache das es ja Träume waren, sehr ungewöhnlich. Treducio schien immer im voraus meine Fragen zu kennen und er beantwortete diese in einer Art Monolog noch bevor ich sie stellen konnte. Leider war es mir nie möglich, seinen Redefluß zu unterbrechen oder Zwischenfragen zu stellen. Ich fühlte mich durch seine Vorgehensweise an meine Studienzeit erinnert, viele der Professoren hatten dem Auditorium einfach nur Vorträge gehalten. Und wie damals lernte ich auch jetzt vieles aus dem, was Treducio mir erzählte und auch aus dem, was er mir nicht anvertraute. So erfuhr ich zum Beispiel nicht die Namen anderer Draks oder der Hüterin. Eine durchaus weise Vorsichtsmaßnahme (und nicht etwa eine Unhöflichkeit), gibt das Wissen um einen Namen doch auch Macht über denjenigen. Während er sprach, veränderte sich häufig seine Gestalt; war er eben noch ein Mann mittleren Alters, so konnte er gleich darauf als Jüngling oder auch als gebeugter Greis vor mir stehen.
    Wir trafen uns in einem Tal inmitten eines Steinkreises, der von Treducio als "Der Ring der Druiden" bezeichnet wurde.
      Auch wenn du leicht erraten hast das Rätsel, so hast du doch oft nach dem Sinne dich gefragt?
      Nun, höre, auch der Bund kam an einen Punkt der Wende, Bestand hat doch der Wandel nur in dieser Welt.
      Umgeben waren wir mit Feinden, von allen Seiten waren sie zu uns schon fast gelangt.
      Nur uns're Magier vermochten sie noch aufzuhalten, wie lange noch? Dies' Frag macht' uns'ren Herzen bang.
      Die Trennung und die Teilung, dies schien der einz'ge Weg, der uns noch offen blieb.
      So trat die Hüterin nach vorne und ließ uns wissen von einer Prophezeiung, alt wie die Berge, wie das Meer.
      Du kennst den Wortlaut, du hast sie entschlüsselt, wir hörten sie, versuchten zu versteh'n.
      Debatten folgten nun, ein jeder sah sie anders. So stand die Hüterin dann auf und nahm den Stein.
      Ihn haltend zwischen ihren Händen, sprach sie die ersten Verse. Verwundert blickten wir auf das, was dann geschah.
      Es war, als würd' ein Blitz in ihre Händ' einschlagen, als würd' ein Donner an der Erde Wurzeln rühr'n.
      Auf ihren Händ', da lag der Stein und doch war er nicht mehr, wie wir ihn hab'n gekannt.
      Zerteilt war er, für jeden Drak ein Anteil und in der Mitte war noch einer, für die Hüterin, das runde Mittelstück.
      So nahm denn jeder Drak sein Teil und ging hinaus in diese Welt, erfüllend seine Pflicht von nun an ganz allein.
      Wir trafen uns mitunter noch in Gruppen, doch kamen seitdem nie mehr alle auf das Schloss, von ein'gen fehlt noch heute jede Spur.
      Ihr' Teile sind noch da, soviel wir wissen, doch ihre Träger sind verscholl'n für ewig wohl.
    Nach diesen Worten fuhr sich Treducio über die Augen, drehte sich um und ging mit gebeugten Schultern und langsamen Schrittes aus dem Kreis. Ich mußte an Abdul Alhazred denken, jenen Araber, der sich wohl zu weit gewagt hatte.

    Auch diesmal war der Treffpunkte der Ring der Druiden. Jedoch stand Treducio ausserhalb des Kreises und schien guter Dinge zu sein, denn er lächelte mich an.
      Mein Freund aus fröhlich' Jugendtagen, mein Alter gibt dir Rätsel auf? Warum denn das, so schwierig ist's nun nicht...
      Nütz' doch dein Hirn, was mag wohl meine Kraft für mich bedeuten?
      Wie sollt' ein Wandler werden alt und grau? Fühl' ich die Zeit, so werd' ich wieder jung, wenn's mir gefällt.
      Zwar muß ich auch wohl fort dann, kann nicht mehr bleiben, doch gibt's so viel zu sehen und mehr noch zu erfahr'n.
      Mit einigem hast du nicht schlecht geraten, viel Wissen schon gesammelt in gar kurzer Zeit.
      Ja. Einst traf ich Odin, einen tapf'ren Recken und viele Abenteuer haben wir erlebt.
      Sein Rab' war ich gar nie, er hatte doch auch keine. Dies ist nur eine Mär, wie viele and're auch.
      Ich schrieb die Edda nicht, noch hab gekannt die Schreiber oder ihre Helfer ich.
      Mag sein, daß sie mich wohl nicht mochten und so den Loki schufen, doch bös' und listig war ich nie.
      Auch Artus war ein tapf'rer Mann und Merlin wirklich weise und Excalibur ein Schwert, wie sonst nicht auf der Welt.
      Mir war es nie vergönnt, im Kampfe es zu schwingen, es gab halt mehr als einen Bund zum Wohle uns'rer Erd'.
      Mehr dir zu berichten, ist mir nicht erlaubet. Du musst wohl selber finden, was du denn finden kannst.
    Nach diesen Worten fing Treducio an zu lachen und es dauerte einen Moment, bis seine Fröhlichkeit endetet. Dann sah er mich noch einmal prüfend an und ging.
    Ich ging durch einen schmalen Hohlweg, der an einem Abgrund endete. Dort stand Treducio und wies mit der Hand in die Ferne, wo ein wunderschönes Schloß stand in einem strahlenden Weiß. Das Mondlicht brach sich an den hohen Mauern, ließ sie wie frisch aus Silber gegossen aussehen und ein Geviert aus schlanken Türmen reckte sich elegant dem Himmel entgegen.
      Mein Schloß und Heimat kennst du schon vom Bilde, doch kennst du Andrak, unser aller Heim?
      Dort siehst du es am Horizonte, sich trutzig hebend aus der Erde Staub.
      Dort schlägt das Herze uns'res Bundes, dort lebt die Hüterin, dies edle Weib.
      Den Weg dorthin, den kannst niemals du finden. Er wird geschenkt, wenn du soweit wirst sein.
      Mit deinem Lernen hat's wohl schnell ein Ende und auch die Träume werden nun vergehen.
      Machst du's nun recht, dann werd' die Hand ich dir gar bald schon reichen.
      So tu, was bleibt und eile, auf daß ich dich kann wiederseh'n!
    Er drehte sich lächelnd zu mir und schüttelte mir die Hand. Danach umarmten wir uns noch kurz und - zu meinem Schrecken - machte er einen Schritt direkt auf den Abgrund zu. Ich sah ihn in Gedanken schon abstürzen, doch er schritt, wie auf einer unsichtbaren Brücke über die Tiefe, direkt auf das Schloß am Horizont zu und verschwand aus meinem Blick.

Wie nicht anders zu erwarten war, war dies der letzte Traum, in dem ich Treducio begegnet bin. Ich blieb noch einige Tage und schloß meine Studien ab, doch waren meine Nächte nun traumlos und leer. So endete das, was ich als eine einfache Recherche begonnen hatte und es kam der Tag, an dem ich die letzte Seite im letzten Buch gelesen hatte. Nur Weniges blieb mir jetzt noch zu tun. Ich schürte ein Feuer im Kamin, nahm die Bücher aus dem Regal hinter der Geheimtür und verbrannte eines nach dem anderen. Diese Bücher hatten keine Daseinsberichtigung auf unserer Erde und ihr Wissen war, soweit erforderlich, mir nun bekannt. Andere Menschen sollten mit ihnen nicht mehr zu falschen Handlungen verführt werden können. Es war nicht einfach dieses zu tun, doch war ich sicher richtig zu handeln und so mußte ich halt tun, was ich tun mußte.

Meine Notizen, zusammen mit den Erlebnissen um "Das Bild" und ergänzt um einen entsprechenden Obulus, sand ich an einen kleinen, aber bekannten Verlag mit der Bitte um Veröffentlichung in einer niedrigen Auflage. Vielleicht würden meine Erlebnisse ja jemandem als Warnung dienen können. Vielleicht würde auch jemand den Ruf in ihnen verstehen, würde den Rätseln folgen und - wie ich - die Spur aufnehmen.

Dann packte ich einige Sachen in eine Tasche, gab meiner Haushälterin Bescheid, daß ich auf eine lange Reise gehen würde und zog mir einen leichten Reisemantel an. Nachdem ich noch einmal durch das Haus gegangen war und innerlich Abschied genommen hatte, schloß ich die Haustür ab und ging zum Bahnhof. An der Gartenpforte angelangt, schaute ich mich noch einmal um. Würde ich dies Haus jemals wiedersehen? Nun, das war nicht mehr wichtig, ich war mir sicher, daß ich in nicht allzu ferner Zeit am Tor von Treducio's Schloß um Einlaß bitten und diesen auch gewährt bekommen würde. Vielleicht würde ich sogar Andrak mit meinen eigenen Augen sehen dürfen, vielleicht würde die Hüterin meinen Bitten gegenüber gnädig gestimmt sein. Ich hoffte nur, daß ich mich in diesem Fall auch ihrer Gnade würdig erweisen würde.
    So wisset,
    So bewahret,
    So traget weiter:
    Solang die Hüterin es gibt,
    Solang der Stein in ihrer Hand,
    Solang ein Drak noch auf der Erd',
    Solang wird's Böse auch bekämpfet!
 
 
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