Stories : Meme : Schichtende
 
  Schichtende  
 
 
  Mein erster und auch mein letzter Flug.
Jahrelange Ausbildung, Quälerei, Aufgabe eines Privatlebens, all das für den heutigen Tag.
War's das wert gewesen? Ein ganzes Leben ausgerichtet auf einen Tag, einen einzigen Tag?
Die heutige Entscheidung des Präsidenten das Weltraumprogramm nach meinem Flug ausschließlich mit unbemannten Flügen weiter zu führen, hat mich um meinen Job gebracht, um meinen Job und und um meine Zukunft.
Auswandern? Die OCAE bildet noch aus, die Eurasier betreiben ja auch noch weiterhin bemannte Raumfahrt, vielleicht suchen sie ja auch erfahrene und gut ausgebildete Leute.
Dieser Schritt wäre aber ganz sicher endgültig, man würde mich als Vaterlands-Verräter betrachten. Ich könnte bestimmt niemals wieder in die USA einreisen und schon gar nicht arbeiten.


In seine Gedanken verloren schritt er auf den Hermes-Shuttle zu, einziger Amerikaner in der internationalen Crew. Er konnte sich aus diesen Gedanken nicht lösen, es war aber auch nicht nötig. Als Missions-Spezialist hatte er beim Start keine Aufgaben, so konnte er weiter grübeln, ohne das er seine Pflichten vernachlässigte.
Nebenbei begrüßte er die Europäer und Asiaten, man tauschte die Vornamen aus und es gab etwas Smalltalk, bis die Startvorbereitungen die Mehrzahl der Crew zu anderen Tätigkeiten zwang und der Rest nicht stören wollte.
Das Aufbrüllen der Triebwerke unterbrach seine Gedanken, zu machtvoll wurde er in den Sitz gepresst, unfähig sich zu bewegen und unfähig selbst zu denken.
Nach wenigen Augenblicken war der Shuttle im Weltraum, reduzierte seine Beschleunigung und fing seinen Wettlauf mit Walhalla an - der euro-asiatischen Station.

Wie war das nur möglich gewesen? OK, die Anfänge dieser Entwicklung reichten etliche Jahre zurück... Was war wohl der Auslöser gewesen?
Die hohen Verluste im Nahen-Osten und die vernichtende Niederlage in Korea, nach der Amerika seine Truppen aus allen Ländern der Erde zurück nach Hause holte?
Die furchtbaren Folgen der letzten Cyber-Attacken, nach denen nun die letzten Geldreserven dazu verwendet werden mussten, um die heimische Wirtschaft zu stützen und zu schützen?
Die enormen Geldmengen, die in die Sicherung der Grenzen gesteckt wurde?
Nein, all das trug dazu bei, aber der Auslöser war einfach die Änderung der öffentlichen Meinung, geschickt manipuliert von einigen Politikern und Lobbyisten.
Wozu einen Menschen gefährden, wenn doch ein Automat das Gleiche erreichen konnte? Und dann auch noch Geld ausgeben. Viel Geld, das in internationale Missionen gesteckt wurde, bei denen die Asiaten und Europäer sogar noch verdienten.
Ja, das war der Grund, ich bin mir sicher.


Er schrak zusammen, als ein kurzer Ruck durch den Shuttle ging. Sie hatten an Walhalla angedockt. Er stieg zuammen mit den Anderen um in die Station, schaute auf die Raumeinteilung und brachte sein Gepäck unter. Es folgte das erste Briefing.

Von Anfang an fühlte er sich als Aussenseiter. Nicht das die Crew ihn ausgegrenzt hätte, aber er konnte ihnen nicht frei von Vorbehalten begegnen oder sich mit ihnen unterhalten.

Werde ich ausgehorcht? Meint der Gegenüber die Begrüßung ehrlich oder will er mich nur in Worte einwickeln, mein Mißtrauen einlullen? Werde ich langsam paranoid? Ist das nur die Wirkung der Konditionierung, die er während der politischen Schulung erhalten hatte?
"Denken Sie stets daran, sie vertreten die USA, das letzte echte demokratische Land dieser Erde."


Wie ihm von seinen Vorgesetzten geraten wurde, beteiligte er sich wenig an Gesprächen und zog sich sofort zurück, wenn das Thema politisch wurde. Aber er hörte weiterhin zu, liess sich seine eigenen Gedanken nicht anmerken.
Das UN-Hauptquartier ist nach Genf gezogen? Rausgeworfen haben wir's...
Es gibt ein Wirtschafts-Embargo gegen die USA? Wir treiben mit einigen Ländern keinen Handel mehr, da sie uns nicht freundlich gegenüber treten...
Die USA ist aus dem UN-Sicherheitsrat ausgeschlossen worden? Wir sind gegangen, um dieser korrupten Institution nicht weiter anzugehören...


Vom aktuellen Tagesgeschehen waren sie weit entfernt - nicht nur räumlich. Selbst er spürte mit der Zeit eine gewisse Entfremdung und er war tief in seiner Heimat verwurzelt. So erfuhren sie zwar von Spannungen zwischen den Weltmächten, der eurasischen Union, der Volksrepublik China und den Vereinigten Staaten von Amerika. Doch sie beachteten nur wenig die Eskalation im Verhältnis zwischen der EAU und den USA. Die eindeutige Parteinahme der VRC für die EAU trug nicht zu einer Verringerung der Spannungen bei, im Gegenteil. Die USA sahen sich dadurch regelrecht umzingelt.

Seine Arbeitsschicht probierte er so zu legen, dass er einen guten Ausblick auf den nordamerikanischen Kontinent hatte und wenn es auch nur für kurze Zeit war. Alleine schon der Anblick seiner Heimat war tröstlich und half ihm sehr über das Gefühl der Einsamkeit hinweg.
Als er an diesem Tag seine Schicht antrat, war zuerst alles wie immer. Er konzentrierte sich auf seine Aufgaben und blickte nur selten aus dem Fenster. Der Nordatlantik war sonnenbeschienen und strahlte in einem wunderbaren Blau.
Kurz vor dem Ende seiner Schicht fiel ihm etwas ungewöhnliches auf:
Vor der Küste Neuenglands waren einige Strukturen aufgetaucht, die eine erkennbar künstliche Form hatten. Drei langgestreckte Ellipsen hoben sich, wie dunkle Schatten, von dem Blau des Atlantiks ab. Während er noch versuchte zu begreifen, was das war, was das bedeutete, da erkannte noch weitere dieser Schatten weiter südlich und es wurden mehr und mehr - wie eine Kette, die von Boston nach Miami reichte. Ihm fiel ein, was das für Schatten waren: es waren Träger-U-Boote, die sich knapp unter der Wasseroberfläche aufhielten. Eine Position, die die Boote aber nur beim Manöver oder beim Ernstfall einnehmen (und es gab kein Manöver, bei dem alle Träger-U-Boote im Atlantik beteiligt werden würden).
Ihm stockte der Atem, er glaubte, die Abschüsse sehen zu können, aber das war unmöglich. Er starrte wie gebannt auf die Szene, die Augen fingen an zu tränen, aber er konnte den Blick nicht abwenden. So geisterhaft, wie sie auftauchten, so verschwanden die Schatten vor der Ostküste der USA auch wieder und das Blau des Atlantiks war makellos.

Tränen liefen ihm über das Gesicht und er drehte sich, um den eurasiatischen Kontinent zu beobachten. Noch war die Dunkelheit nur durchbrochen von den Lichtern der Städte, doch bald blitzten über den gesamten Kontinent verteilt kurz Lichter auf, Lichter, die einen leuchtenden Schweif hinter sich hatten, gen Westen und Norden ziehend.
Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren, ihm war mit einem Mal kalt, sehr kalt und er schlang seine Arme um sich, gleichsam sich haltend und wärmend. Ein trockenes Schluchzen drang aus seiner Kehle.
Es fing im Westen Europas an - Paris, Rom - und zog nach Osten - Berlin, Warschau, St. Petersburg, Moskau: ein grausig schönes, hell gleissendes Leuchten, dass sich behende kreisförmig ausbreitete.
Dann sah er ein Aufblitzen über New York und Washington DC, im Licht der Sonne standen wunderschöne Pilze über den Städten.
Und er konnte seinen Blick nicht abwenden und es ging weiter:
Boston, Philadelphia, Miami, Chicago, Denver vergingen in Blitzen und wurden von Wolken verdeckt.
Im Osten war das kurze Aufblitzen einem Feuerwerk gewichen, einem Feuerwerk, dass sich über den gesamten Kontinent zog. Europa und Asien hoben sich in ihrem Umriß vor dem dunklen Hintergrund der Ozeane wie in einem Lehrbuch ab, nur leicht verzerrt von der Form der Erde.
Nordamerika war unter den sich ausbreitenden Pilzen nicht mehr zu erkennen, die sich zu einer kompakten Wolkenformation verformt hatten. Erste Andeutungen von Tornados verformten die graue Masse.

Und auf der Nachtseite zeigte sich ein sanftes, rötliches Glühen, durchbrochen von zuckenden Blitzen.

Von Walhalla nach Hel...

 
 
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